Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Kryptische Angelegenheit

Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Kryptische Angelegenheit
von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen. (Foto: Raiffeisen)

Der Bitcoin kostete am 18.12.2017 nach einem atemberaubenden Steigflug 18‘674 US-Dollar. Dann aber setzte sein Absturz ein. Sechs Wochen später war er für 7‘000 US-Dollar zu haben und am 14.12.2018 für gerade mal noch 3‘156 US-Dollar. Rückblickend war das Fazit rasch gezogen: spekulative Blase, schliesslich explodiert. Danach wurde es ruhig um Bitcoin und Co. Ende Frühling erwachte der Bitcoin wie aus einem Winterschlaf.

Im April 2019 machte er einen ersten grösseren Satz von rund 4‘000 auf etwa 5‘000 Dollar. Danach setzte er zu einem neuen Höhenflug an mit mittlerweile schwindelerregendem Steigungswinkel, ähnlich wie im Herbst 2017. Aktuell notiert er wieder deutlich über 11‘000 US-Dollar. Dies lässt nur einen Schluss zu. Die Spekulanten sind wieder an Bord. Noch haben sie nicht alle Kryptowährungen im Visier. Der Bitcoin ist gemessen an der Marktkapitalisierung mit 60% wieder deutlich die Nummer 1 und hat alle anderen Kryptowährungen abgehängt. Sollte der Hype sich aber fortsetzen, dürften auch viele andere Kryptowährungen – wie beispielsweise Ethereum, XRP, Bitcoin Cash oder Litecoin wieder nachziehen, unter Umständen auch die kleineren Exoten wie Zcash, Maker, VeChain und wie sie alle heissen mögen.

Wenn man nach den Ursachen des aktuellen Kursfeuerwerks sucht, wird man im Gegensatz zur ersten Boomphase immerhin fündig. Die Ankündigung von Libra durch Mark Zuckerberg. Libra hat die Fantasie der Spekulanten beflügelt. Facebook – so die Meinung – ist eine ganz andere Hausnummer als die vielen kleinen Kryptofirmen. Facebook wird den digitalen Zahlungsmitteln daher zum Durchbruch verhelfen, ergo sind die Kryptowährungen auch wieder heiss und entsprechend gesucht. Ausgeschlossen ist das nicht, aber auch nicht sicher.

Geteilte Lager
Denn das Unterfangen ist äusserst umstritten, was man an den Reaktionen auf die Ankündigung von Libra ablesen kann. Sie reichen von Euphorie über Skepsis bis hin zu Ablehnung und spalten so Befürworter und Skeptiker. Dass sich die Techfirmen früher oder später ein noch grösseres Stück des Finanzdienstleistungskuchens abschneiden würden, war absehbar. Der Marktanteil der zwölf grössten Big-Tech-Konzerne der Welt am globalen Umsatz des Finanzsektors beträgt heute lediglich etwas mehr als 10%. Da die Techfirmen extrem viele Informationen über uns haben, ist ein Ausbau ihres Geschäftsmodells in Richtung kom plementärer Dienste im Finanzdienstleistungsbereich naheliegend. Bonitätsbeurteilungen, Risikomanagement oder gar Kredite – offeriert von Techfirmen – sind keineswegs mehr utopisch und nur eine Frage der Zeit.

Libra hingegen hat hingegen heute schon das Zeugs, schon bald zum weltgrössten Zahlungsmittel anzuwachsen, also genau das zu erreichen, was Bitcoin und den anderen „alten“ Kryptowährungen nie gelang. Der neue Preisboom der „alten“ Kryptowährungen surft also im Fahrwasser von Libra, obwohl beide Konzepte völlig verschieden sind. Libra werden nicht geschürft und es stecken wirklich grosse Player dahinter.

Die Masse macht‘s
Libra soll ein Zahlungsmittel werden, wie Euro oder Dollar, allerdings ein rein digitales. Das versuchten Bitcoin und Co. ebenfalls, nur erfolglos, da ihnen neben dem Vertrauen vor allem die Masse fehlte. Auch die Geldschöpfung mittels Schürfen ist – sagen wir mal – sehr speziell. Und so verkamen die Kryptowährungen statt zu einem breit akzeptierten Zahlungsmittel zu einer hochspekulativen Anlageform. Als Zahlungsmittel sind die gängigen Kryptowährungen höchstens an Hackerkongressen oder im Dark Net üblich. In die „konventionelle Welt“ sind mit sie mit ganz wenigen Ausnahmen bisher nie vorgedrungen. Dafür sind sie schlichtweg zu volatil. Libra dürfte weniger im Wert schwanken und wird von der Masse leben. Das sind gute Voraussetzungen für einen Durchbruch. Digitale Zahlungsplattformen gibt es weltweit zwar schon zuhauf, hierzulande etwa mit Twint. Facebook mit seinen fast 2,5 Milliarden Nutzern ist aber ein ganz anderes Kaliber und vor allem nicht allein am Projekt beteiligt, sondern einer von heute 28 Partnern der Libra-Stiftung (Libra Association), die ihren Sitz übrigens in Genf hat.

Die knapp 30 Mitglieder der LibraStiftung stammen aus den Bereichen Social Media (Facebook mit calibra), E-Commerce (ebay, Farfetch und mercado libre), Ride-Share (Uber, Lyft), Music (Spotify), Blockchain (coinbase, xapo u.a.), Telekommunikation (iliad und Vodafone), Payments (VISA, Mastercard, PayPal u.a.) sowie Travel (Booking Holdings). Zudem sind Non-Profit Organisationen wie Women’s World Banking, kiva und Mercy Corps dabei sowie Investmentfirmen bzw. Risikokapitalgeber (Andreessen Horowitz, Thrive Capital u.a.). Die Stiftung soll bis zum Start der neuen Währung im Jahr 2020 auf gut 100 Mitglieder wachsen. Wer sich an der Libra-Stiftung beteiligen möchte, muss dafür zehn Millionen Dollar aufwerfen. Die Eintrittsbarrieren sind folglich recht hoch, vorerst noch, wie die Stiftung betont.

Eins steht aber schon jetzt fest. Libra ist gross und konzeptionell gut genug, um zu einem weltweit anerkannten digitalen Zahlungsmittel heranzuwachsen. Zwar handelt es sich vorerst bloss um eine Idee, aber
ein wahrlich zündende.

Wie funktioniert Libra?
Auch Libra baut auf der Blockchain-Technologie auf, soll aber anders als die anderen Kryptowährungen nicht schwanken. Die Stabilität des digitalen Zahlungsmittels soll durch einen Reservefonds gewährleistet werden, in welchen die Gründungsmitglieder bereits Geld eingeschossen haben und den jedes neue Mitglied mit den erwähnten 10 Millionen Dollar Eintrittsgebühr speist. Die Libra-Stiftung gibt seinen Nutzern sogenannte Libra-Token im Tausch gegen Dollar, Euro oder andere Währungen und die Erlöse aus diesen Verkäufen fliessen ebenfalls in den Reservefonds.

Der Nutzer hat jetzt ein Wallet (elektronisches Portemonnaie) auf dem ihm die Libras gut geschrieben werden und kann jetzt beispielsweise via Whatsapp oder Facebook Messenger Überweisungen tätigen, einkaufen oder Rabatte einlösen, etwa bei ebay oder Uber, welche er erhält, wenn er deren Leistungen in Libra bezieht oder einkauft. So könnte man sich das vorstellen. Die Stiftungsmitglieder erhalten aus dem Reservefonds Dividenden: der legt die eingehenden Dollars oder Euros in Staatstitel oder Bankeinlagen an. Man kann wohl konstatieren: wenn das klappt, dann steht das Weltfinanzsystem vor einem ziemlichen Wandel.

Gutmenschen
Grossspurig liess Zuckerberg verlauten, man werde nicht nur die Weltwirtschaft verändern, sondern den Menschen überall in der Welt ein besseres Leben schaffen. Der gute Mensch von Silicon Valley mal wieder. Doch dem ist nicht so, denn Facebook winken neue Marktpotenziale. Man denke nur an die rund 90 Millionen kleiner Unternehmen, die heute auf Facebook präsent sind. Wenn die mal auf Libra setzen, könnte Facebook zu einem riesigen Marktplatz heranwachsen. Auch dass Facebook wegen Datenschutzbedenken Calibra als eigenständige Unternehmung führen und vom Social-Media-Bereich trennt, sagt Einiges. Einerseits muss man wegen der Geldwäschereiauflagen die Nutzer vertiefter identifizieren als Social Media Kunden. Andererseits möchte sich Facebook wohl bereits heute wappnen, falls die Politik den Konzern einmal zerschlagen sollte. Und gar nicht erst in Verdacht geraten, die eigenen Geschäftsinteressen höher zu gewichten als den Schutz der Privatsphäre. Denn Hand aufs Herz: wer würde Facebook nach der Affäre um Cambridge Analytica und anderen Datenskandalen Geld anvertrauen?

Gutes kann das Ganze aber durchaus bewirken. Die sogenannten unbanked Menschen dieser Erde, geschätzt mehr als 1,5 Milliarden Individuen, hätten vielleicht endlich Zugang zu erschwinglichen Bankdienstleistungen. Gemäss FacebookOffiziellen soll eine Überweisung etwa so einfach werden wie das Senden einer SMS, eventuell via Whatsapp oder Facebook Messenger. Das kann dann auch nicht viel kosten und wäre wohl gleichzeitig das Ende der teuren Auslandsüberweisungen. Dort
schlummert noch ein anderes Potenzial. 2018 wurden von Migranten fast 700 Milliarden Dollar in ihre Herkunftsländer überwiesen. Barclays schätzt daher, dass Facebook bereits 2021 mit Calibra fast 20 Milliarden Umsatz machen könnte. Also nix da Altruismus, sondern knallhartes Kalkül.

Aufsicht zwischen Nachsicht und Vorsicht
„Das kann und darf nicht passieren“ sagte der französische Finanzminister Bruno Le Maire zu den Libra-Plänen. Und auch etliche Notenbankvertreter äusserten sich sehr besorgt. Schliesslich wird hier ein privates Zahlungssystem geschaffen, für das es heute noch keine Regulierungen gibt. Nationale Finanzmarktaufseher oder die Notenbanken dürften aber sicherlich noch ein Wörtchen mitreden, bevor es so weit ist. Zudem darf man Eines nicht vergessen: die Notenbanken sind immer noch die Emittenten der Deckungswährungen für den Libra und damit nicht ohne Einfluss auf das Megaprojekt. Sollte es ihnen zu bunt werden, könnten sie beispielsweise verhindern, dass Libra in nationale Währungen zurückgetauscht werden. Das sieht offenbar auch die Schweizerische Nationalbank (SNB) so. SNB-Direktor Moser soll sich gemäss Medien anlässlich einer Tagung zu Kryptowährungen in Zug am Dienstag entspannt geäussert haben. Vorsichtig äusserte sich hingegen die Deutsche Bundesbank, gemäss deren Vorstand Joachim Wurmeling Facebook zum weltgrössten Vermögensverwalter heranwachsen und damit systemrelevant werden könnte. Das wird aber nicht übermorgen passieren.

Erst muss sich das Zahlungssystem bewähren. Problematisch könnte es dagegen für Länder werden, in denen die heimische Bevölkerung der eigenen Währung nicht vertraut. Sie könnten auf ein Zahlungsmittel ausweichen, das an härtere Devisen gebunden wäre. Die Abwertung der Landeswährung würde sich so noch mehr beschleunigen und die Instabilität verstärken. Definitiv am Stärksten trifft das Projekt aber die traditionellen Finanzdienstleister, deren traditionelle
Geschäftsmodelle mittelfristig arg ins Wanken kommen dürften, sollten sich die digitalen Währungen tatsächlich etablieren. Die Finanzdienstleister dürften sich bald mal hinter der ungeliebten Regulierung verschanzen und die berühmten gleich langen Spiesse fordern.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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