Von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen (Foto: Raiffeisen)
St. Gallen – Unter Wachstumspotenzial versteht man den langfristigen möglichen Wachstumspfad einer Volkswirtschaft, den diese bei hoher, aber nicht übertriebener Auslastung der Kapazitäten beschreiten kann. Konjunkturell bedingt positive oder negative Abweichungen von diesem Pfad waren in der Vergangenheit die Regel. In jüngster Zeit hat die «great moderation» dazu geführt, dass die Konjunkturzyklen gehörig geglättet wurden. Die typischen Schwankungen im Konjunkturverlauf, wie wir sie aus der Vergangenheit kennen, sind seit den Neunzigerjahren seltener geworden. Dies wird gern auch der Globalisierung zugeschrieben. Unabhängig davon konsolidiert in den hochentwickelten Volkswirtschaften das Wachstumspotenzial mit zunehmender Prosperität der Wirtschaft und Sättigung der Konsumenten. Die damit einher gehende Wachstumsmalaise der Industrieländer ist Realität. In Europa ist sie besonders augenscheinlich. Nur die Finanzmärkte wollen sich damit nicht abfinden. Für die ist Wachstum nach wie vor das einzige, was zählt.
Doch es steht ausser Frage, dass sich Wachstumspotenziale in sehr reifen Industrieländern – allen voran europäischen wie der Schweiz – erschöpfen, vorwiegend aus demographischen Gründen, aber nicht nur. Gestreng der volkswirtschaftlichen Theorie schöpfen wir unser Wachstumspotenzial aus, wenn wir tagein tagaus möglichst viel, aber nicht ganz alles aus uns herausholen. Wir sind gemäss Lehrbuch auf nichts Anderes aus, als unseren Nutzen zu optimieren und um das zu erreichen, versuchen wir, unser Potenzial optimal einzusetzen. Die Praxis sieht aber anders aus. Wer von uns ist tagein tagaus so fokussiert und diszipliniert wie ein Spitzenathlet bei seinem täglichen Training oder im Wettkampf? Wohl kaum jemand, denn es besteht auch keine Notwendigkeit dazu. Wenn man Wachstumspotenzial rein quantitativ definiert, in Form von Wachstumsraten oder Mengen von Waren, sind wir da nicht längst an einem Punkt angelangt, an dem wir nicht mehr zwingend auf Wachstum angewiesen sind – sprich satt? Viele streben gar nicht zwingend nach mehr materiellem Wohlstand, gerade auch junge Menschen. Das wird immer offensichtlicher und daher gab es zum Glück China – bis zuletzt.
Der Superlativ hinkt
In China begegneten wir in den letzten Jahrzehnten dem Superlativ. Begeistert berichteten Chinareisende davon, mit welch horrendem Tempo dort Städte aus dem Boden gestampft wurden und überall neue Betriebe entstanden. Von emsigen Chinesen war die Rede, die alle nur ein Ziel vor Augen hätten, reich und wohlhabend zu werden, die Wachstumsstory war perfekt und liess sich anhand lebhafter Bilder schildern. China und andere aufstrebende Volkswirtschaften war es mitunter zu verdanken, dass die globale Rezession 2009 nicht ganz so heftig ausfiel, wie befürchtet wurde. Und China bescherte manchem Unternehmen auf beide Seiten des Atlantiks ein sattes Umsatzplus und sprudelnde Gewinne. China war schlicht der Garant dafür, dass die Wachstumsgeschichte in der Welt weiter geht. Wenn nicht im Westen, dann wenigstens im Osten. Doch nun das.
Konjunktur ist nicht das Sorgenkind
Es geht nicht um die chinesische Konjunktur, wenn sich die Finanzmärkte besorgt zeigen. Urplötzlich keimen Zweifel auf, dass auch in China die ersten Spuren einer Sättigung spürbar werden könnten. Und schon beginnt an den Finanzmärkten das Zittern. Denn wenn China als letzte Bastion zuverlässig hohen Wirtschaftswachstums jetzt wegbricht, wäre das auch das Ende der fast nimmer endenden Wachstumsstory der modernen Welt. Afrika mag zwar Potenzial für hohes Wachstum haben, ist aber völlig atomisiert und bringt daher nie die geballte Masse auf die Waage wie China oder auch Indien. Und daher beschäftigt es die Finanzmärkte so intensiv, ob Chinas Wirtschaft tatsächlich «nur» noch sechs oder weniger Prozent jährlich wächst. Beunruhigend ist dazu, dass China auf dem besten Weg ist, die gleichen Fehler zu machen wie Japan Ende der Achtziger Jahre, nämlich den Boom um jeden Preis am Leben erhalten zu wollen, obwohl die demographische Wende schon vollzogen und die Erwerbstätigenzahl rückläufig ist. Auch die chinesische Bevölkerung beginnt zu altern und sieht sich schon vor denselben soziodemograhischen Herausforderungen stehen wie die reifen Industrieländer. Die chinesische Regierung reagiert darauf mit einer expansiven Geld- und Fiskalpolitik und umstrittenen Eingriffen in die Finanzmärkte: Massnahmen mit kurzer Wirkung, die in keiner Weise dazu beitragen, das Wachstumspotenzial der Vergangenheit zu reaktivieren. China wird die Märkte in Zukunft folglich noch viel intensiver beschäftigen als in der Vergangenheit und dabei nicht mehr ausschliesslich Euphorie hervorrufen. Was das heisst, haben wir jüngst erlebt. Kaum Potenzial für Kursavancen an den Märkten. (Raiffeisen/mc/ps)