Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Reine Nervensache

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Reine Nervensache

Von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – «Nervosität kann umschlagen», schrieb ich vor einer Woche in meinem Marktkommentar und am Freitag bekamen wir die erste Kostprobe davon. Nach einer Woche, in der sich die Aktienmärkte erstaunlich gut behaupteten, brachen im spä­ten Handel die europäischen Aktienmärkte in wenigen Minu­ten komplett ein. Der Dax etwa lag tagsüber mit mehr als einem Prozent im Plus und schloss schliesslich 1.44% tiefer als am Vortag. Auch der SMI drehte rasch ins Minus, kam aber mit einem Tages­verlust von 0.75% noch einigermassen glimpflich davon.

Auslöser der hektischen Abgaben waren die zu eskalieren drohenden Streitigkeiten um einen russischen Konvoi an der Russisch-Ukrainischen Grenze. Ein lebendiges Beispiel dafür, dass es nicht viel braucht zurzeit, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Finanzanlagen sind einmal mehr zur reinen Nervensache geworden. Auch weil der Reigen der Neuigkeiten jüngst für die Marktperformance eher schlecht war.

Konjunkturelle Risiken haben zugenommen
Die letzten Daten zum europäischen Konjunkturverlauf waren unerwartet schlecht. Besonders beunruhigend: die drei grössten Volkswirtschaften der Eurozone schrumpf­ten im zweiten Quartal 2014. Frankreich stagniert nun schon seit zwei Quartalen, Italiens Wirtschaft schrumpfte nach 0.1% im ersten um 0.2% im zweiten Quartal 2014 und womit nur wenige rechneten: Deutschlands Wirt­schaft legte im zweiten Quartal ebenfalls ein Minus von 0.2 hin. Ihr Wachstum beschleunigen konnten Spanien und Portugal, beide auf beachtenswerte 0.6%, oder Lettland, Bulgarien und Österreich beispielsweise, doch das machte den Eindruck nicht wett, dass die europäi­sche Wirtschaft schon wieder ins Stocken geraten könn­te, bevor der Hauch eines Aufschwungs überhaupt spür­bar geworden ist. Vor allem am Arbeitsmarkt dürften die letzten Zahlen einen früheren Herbst einläuten.

Auch Japan lieferte im zweiten Quartal 2014 Negativschlagzei­len. Wegen der Mehrwertsteuererhöhung hatten alle Ökonomen mit einem Wachstumsdämpfer gerechnet. Mit 1.7% fiel der Einbruch aber wider Erwarten hoch aus und löste auch schon einen Korrekturboom bei den Wachstumsprognosen für das seit April laufende Fiskal­jahr aus. Statt mit knapp anderthalb berechnen nun etli­che Institute nur noch eine Wachstumsrate mit einer Null vor dem Komma. Das recht eindeutig nicht, um die noto­risch hohe Schuldenlast endlich einmal auch nur ein we­nig zurückzufahren. Von der Euphorie rund um Abeno­mics ist nichts mehr zu spüren, zumal jeder in Japan weiss, dass es noch weitere Steuererhöhungen braucht, um den Trend der stetig steigenden Staatsschulden zu brechen.

In einem solchen unsicheren Umfeld auf Teufel komm raus mit dem geldpolitischen Hammer Inflation von zwei bis drei Prozent anzufachen, scheint ein ziem­lich hoffnungsloses Unterfangen. Abenomics hat in Japan wohl auch nur noch deshalb die Zustimmung im Volk, weil es keine Alternativen dazu gibt und immerhin etwas versucht wurde. Denn all die Jahre davor war Japan vor allem auffällig im Vertagen von Haushaltssanierung und Strukturreformen im Arbeitsmarkt und in der Landwirt­schaft. Die USA sind die einzige reife Industrienation, die konjunkturell wieder einigermassen stabil unterwegs zu sein scheint. Doch das genügt nicht um die Ängste um die Stabilität der globalen Konjunktur auszutreiben, zu­mal mit jeder positiv überraschenden Meldung zur US-Konjunktur der Angstschweiss ausbricht, dass die Geld­politik vielleicht die Zügel früher anziehen könnte als erwartet.

Europa muss aufpassen
Europa läuft Gefahr, den Anschluss an den globalen Konjunkturzug zu verpassen und in einen erneuten Krebsgang zurückzufallen. Das hat neben den Finanz­märkten auch Mario Draghi festgestellt, weshalb er die Geldpolitik Europas im späten Frühjahr von der amerika­nischen abgekoppelt hat und die Zinsen nochmals senk­te. Ob die daraufhin einsetzende Abwertung des Euro den europäischen Exporten wieder Schwung verleiht, ist noch keine sichere Wette. Das Handelsembargo Russ­lands ist ein neu dazu gekommener, nicht zu unterschät­zender Bremsfaktor. Die geldpolitischen Möglichkeiten aber sind ausgeschöpft, weshalb sich der EZB-Chef mehr mit Worten statt Taten in Szene setzt. Den Euro versucht er immer offensichtlicher schwach zu reden, nachdem es im März 2014 noch hiess: «Der Wechselkurs ist kein Ziel unserer Geldpolitik «. Im April war zu hören, der Wech­selkurs sei ein wichtiger werdender Faktor bei der mittel­fristigen Beurteilung der Preisstabilität und am 7. August schliesslich: «Die Basis für einen schwächeren Kurs des Euro ist nun besser als vor einigen Monaten».

Dieser verbale Paradigmenwechsel ist ein Zeichen für die Gren­zen der europäischen Geldpolitik. Die Tiefzinspolitik kommt nicht an in der Realwirtschaft und da bleibt nur noch der Wechselkurs als letztes Mittel. Japan lässt grüs­sen. Solange unsicher bleibt, ob zwei der drei reifen Wirt­schaftsblöcke der Welt auch nur zaghaft zum Wachstum zurückfinden, dürften die Kursavancen an den weltwei­ten Börsen bescheiden bleiben. Da zudem die geopoliti­schen Spannungen jederzeit zur Verunsicherung beitra­gen können, ist in den kommenden Wochen kaum mit Kursavancen zu rechnen. Die Hoffnungen ruhen so auf dem Herbst, der die hohen Erwartungen aber bestätigen muss. (Raiffeisen/mc/ps)

Schreibe einen Kommentar