Stefan Hofrichter, Chef-Ökonom von Allianz Global Investors.
Frankfurt am Main – Welchem Szenario ist in der anhaltenden Staatsschuldenkrise in der Europäischen Währungsunion (EWU) die grösste Wahrscheinlichkeit beizumessen: Einem Auseinanderbrechen oder einer stärkeren Integration? Stefan Hofrichter, Chef-Ökonom von Allianz Global Investors, kommt in der Studie „Europäische Währungsunion: Auseinanderbrechen oder stärkere Integration?“ zu dem Schluss, dass sich die EWU auf einem – wenn auch holprigen – Weg in Richtung einer engeren fiskalischen und politischen Union befindet.
Hohe Kosten eines Auseinanderbrechens der Währungsunion
Der Hauptgrund hierfür sind die hohen Kosten, die der Austritt eines Landes aus der EWU sowohl für die Peripherie- als auch für die Kernländer mit sich brächte. Diese Kosten würden diejenigen eines Verbleibs in der EWU übersteigen. So würde Schätzungen unabhängiger Analysten zufolge das griechische Bruttoinlandsprodukt bei einem Austritt des Landes aus der Währungsunion unmittelbar um 25 bis 30 Prozent sinken und in den Folgejahren um 5 Prozent p.a. schrumpfen. Die Schätzungen für die Wachstumseinbussen in den EWU-Kernländern belaufen sich auf 3 bis 5 Prozent im ersten Jahr und rund ein Prozent in den Folgejahren. Daneben verweist Hofrichter auf das hohe Engagement der Kernländer in der EWU-Peripherie: „Deutschland hat derzeit aus dem Target-2-System Ansprüche in Höhe von rund 700 Mrd. Euro gegenüber der Europäischen Zentralbank. Diese Ansprüche stünden zum Teil auf dem Spiel, wenn eines oder mehrere Peripherieländer – oder auch Deutschland – die Währungsunion verliessen“, so Hofrichter. Darüber hinaus gäbe es politische Kosten eines Auseinanderbrechens der Währungsunion. Hofrichter verweist auf den Rückschlag, den die politische Idee eines geeinten Europas hierdurch erleiden würde. Ausserdem könnte ein Auseinanderbrechen zu politischen Spannungen und sozialen Unruhen führen.
Notwendig: Sparmassnahmen, Wachstumsinitiativen und Anpassungen der Finanzarchitektur
Um die EWU-Staatsschuldenkrise zu überwinden, ist laut Hofrichter dreierlei notwendig: Erstens müssen alle Länder – vor allem diejenigen, die durch eine fahrlässige Fiskalpolitik in Mitleidenschaft gezogen wurden – Sparmassnahmen umsetzen. Zweitens sind nicht schuldenfinanzierte Wachstumsinitiativen notwendig. „Die hohe Staatsverschuldung ist zu einem beträchtlichen Teil die Folge und nicht die Ursache des Problems. Zudem bringen übermässige Kürzungen die Gefahr mit sich, dass die Konjunktur allzu sehr gedämpft wird. Dieser Effekt ist derzeit praktisch in allen Peripherieländern zu beobachten“, begründet Hofrichter diese Massnahme. Darüber hinaus müssten strukturelle Wachstumsinitiativen, also Strukturreformen an den Produkt- und Arbeitsmärkten, umgesetzt werden, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Deren Umsetzung benötige zwar Zeit. „Das Beispiel Irlands zeigt allerdings, dass eine glaubwürdige Umsetzung von Kapitalmärkten recht rasch belohnt wird“, so Hofrichter.
All dies dürfte jedoch nicht ausreichen, da die Märkte die Finanzinfrastruktur des Euroraums insgesamt in Frage stellen. Hofrichter fordert daher, die Probleme bei der Finanzarchitektur des Euroraums anzugehen und die EWU zu einer Fiskal- und politischen Union weiterzuentwickeln. Dies impliziere zum einen ein gemeinsames Einlagensicherungssystem und eine gesamteuropäische Bankenaufsicht für europäische Banken, zum zweiten eine Form der fiskalischen Lastenteilung, wie zum Beispiel der vom deutschen Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vorgeschlagene Schuldentilgungspakt. Diesem Vorschlag zufolge sollen sämtliche Staatsschulden, die 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts überschreiten, vergemeinschaftet werden. Drittens schliesslich erfordere eine Weiterentwicklung der EWU einen Kreditgeber der letzten Instanz – eine Rolle, die typischerweise die Europäische Zentralbank wahrnehmen könne.
Risikoszenarien: (Teil-)Auseinanderbrechen, „Weiterwursteln“, „Maastricht 2.0“
Hofrichter sieht bei all diesen notwendigen Massnahmen Fortschritte, dennoch seien sehr viel entschiedenere Schritte hin zu einer engeren fiskalischen Integration erforderlich. Bleiben diese aus, seien prinzipiell drei Alternativszenarien denkbar:
- (Teil-)Auseinanderbrechen der EWU: Potenzielle Auslöser hierfür könnten Widerstände in den Peripherieländern gegen strikte Sparmassnahmen oder Widerstände in den Kernländern gegen zunehmende Zusagen zur Unterstützung fiskalisch schwacher Länder sein. Hofrichter: „Obwohl die Kosten eines Auseinanderbrechens sehr hoch sein dürften, sind politische Fehler nicht auszuschliessen. Der Aufstieg euroskeptischer Parteien in Kernländern der EWU und zunehmende Demonstrationen gegen die Sparmassnahmen belegen, dass durchaus das Risiko besteht, dass sich dieses Szenario verwirklicht.“ Laut Hofrichter würden in einem solchen Fall risikobehaftete Vermögenswerte generell in Mitleidenschaft gezogen. Den wohl stärksten Einbruch gäbe es bei europäischen Aktien, deren Kurse um 25 Prozent oder mehr fallen könnten. Aber auch US-Aktien sowie Aktien und Anleihen aus Schwellenländern würden voraussichtlich Kursverluste erleiden.
- „Weiterwursteln“, d.h. ein Ausbleiben offizieller Schritte in Richtung einer engeren Fiskal-/Banken-/politischen Union und eine Fortführung der Politik der letzten Jahre. „Angesichts der derzeitigen Marktbedingungen für Staatsanleihen aus den Peripherieländern, der anhaltenden Desintegration der Geld- und Kapitalmärkte sowie der Einlagenflucht in einigen Peripherieländern ist dieses Szenario im Zeitablauf kaum tragbar. Es dürfte sich daher entweder in Richtung des Basisszenarios oder in Richtung eines Zerfallsszenarios entwickeln“, schlussfolgert Hofrichter.
- „Maastricht 2.0“, d.h. eine engere fiskalische und politische Integration, aber keine wesentlichen Fortschritte bei Strukturreformen und umsichtiger Fiskalpolitik. Da dieses Szenario zu einem Trittbrettfahrerverhalten führen könnte (die Länder könnten von der Fiskalunion profitieren, ohne wirtschaftliche Schwächen angehen zu müssen), sieht Hofrichter es derzeit als unwahrscheinlich an.
Zunächst weiter „RORO“ am Kapitalmarkt
Wenn das Basisszenario einer stärkeren Integration für die Marktteilnehmer glaubwürdig ist, sollten Hofrichter zufolge risikobehaftete Vermögenswerte (Aktien, Unternehmensanleihen) und Anleihen der Peripherieländer profitieren und „sichere Häfen“ tendenziell in Mitleidenschaft gezogen werden. Solange jedoch die Unsicherheit darüber anhält, welches Szenario am wahrscheinlichsten ist, bleibt das „RORO“-Umfeld („Risk On / Risk Off“) bestehen. In diesem Marktumfeld, in dem wir uns in den vergangenen zwei Jahren bewegt haben, führen politische Massnahmen, die auf eine Lösung der Krise hindeuten, sowie bessere Konjunkturdaten zu taktischen Aufwärtsbewegungen bei den Preisen für riskante Vermögenswerte. Wenn sich dagegen das politische Risiko eines Auseinanderbrechens erhöht oder die Wirtschaftsdaten enttäuschen, werden risikobehaftete Vermögenswerte in Mitleidenschaft gezogen. (Allianz Global Investors/mc/ps)
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