Zürich – Das Retailbanking ist mit mehr als CHF 1’000 Mrd. an Hypothekarkrediten, rund 22 Mio. ausgestellten Debit- und Kreditkarten sowie monatlich mehr als 160 Mio. Kartenzahlungen und über 12 Mio. Bargeldbezügen von entscheidender Bedeutung für die Schweizer Volkswirtschaft.
Das Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen EY hat zusammen mit der Universität St. Gallen eine Studie veröffentlicht, welche die Einschätzungen von 33 Retailbanken zu zehn wesentlichen Thesen über die Zukunft des Retailbankings im Jahr 2035 zusammenfasst. Die Studie beleuchtet die wichtigsten Herausforderungen und Chancen der Branche. Prof. Dr. Andreas Blumer, Chairman bei EY Schweiz und Mitverfasser, sagt zur Studie: «Wir sind erfreut, dass wiederum alle bedeutenden Retailbanken in der Schweiz an unserer Studie teilgenommen haben. Dabei gilt das Schweizer Retailbanking als robust und anpassungsfähig. Auch wenn die Banken mittelfristig keine grundlegenden Umwälzungen erwarten, bleiben sie wachsam – Zu Recht. Denn sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen wäre gefährlich bei anhaltendem Margendruck, Unsicherheit bezüglich der mittelfristigen Auswirkungen innovativer Technologien, Fachkräftemangel oder steigendem gesellschaftlichen und regulatorischen Druck.»
Die Margen im Retailbanking nehmen langfristig ab
Der Wirtschaftsstandort Schweiz wird im Kontext der geopolitischen Spannungen weiterhin als stabil und auch in Zukunft als attraktiv eingestuft. Dennoch: Die These einer graduellen Margenerosion, getrieben durch das Zinsumfeld, steigende Kundenerwartungen sowie durch einen verschärften Wettbewerb, auch aufgrund neuer Technologien und Plattformen, wird von mehr als zwei Dritteln (69%) der befragten Retailbanken bestätigt. Trotz des zunehmenden Einflusses neuer Anbieter und anderer Herausforderungen bleibt die Branche aber gelassen. Dabei setzen die Banken auf zentrale Merkmale des Retailbankings, wie Kundenbindung und Beratungsqualität. Prof. Dr. Markus Schmid, Professor am Schweizerischen Institut für Banken und Finanzen der Universität St. Gallen und Mitverfasser der Studie, sagt dazu: «Die Erträge im Zinsgeschäft, dem Kerngeschäft der Retailbanken, durch Volumenausweitung stabil zu halten, könnte sich als Auslaufmodell erweisen. Auch im strategisch wichtigen Anlagegeschäft könnten die Margen weiter sinken und nicht mit zusätzlichem Volumen kompensiert werden.»
Innovative Technologien verschärfen den Wettbewerb
Die Auswirkungen innovativer Technologien auf den Wettbewerb werden unterschiedlich bewertet, insgesamt aber als überschätzt bezeichnet. Die hohe Zustimmung der Studienteilnehmenden (81%) ergibt sich aus dem Umstand, dass alle Mitbewerber im gleichen Boot sitzen. Jede Bank ist mit neuen Technologien beschäftigt, echte Innovationen mit materiellen Implikationen auf die Wertschöpfung sind hingegen gemäss der Studie selten. Ändern könnten das mit der Zeit in bestimmten Bereichen die künstliche Intelligenz (KI) oder das Quantum Computing. FinTech- und BigTech-Unternehmen werden als Katalysatoren für Innovationen sowie als Inbegriff von «Convenience» gesehen, aber nicht als direkte Konkurrenten – solange sie nicht die Kontrolle über die Kundenschnittstelle übernehmen. Bei Tech-Multis wird davon ausgegangen, dass der Schweizer Markt aufgrund der geringen Grösse (noch) zu wenig interessant ist für einen Eintritt. Auch die besonderen regulatorischen Hürden erschweren den Markteintritt.
Der gesellschaftliche und regulatorische Druck auf Retailbanken bleibt hoch
Vertrauen ist das höchste Gut der Banken. Das Bild, welches sie von sich vermitteln, ist darum entscheidend. Aufgrund ihrer zentralen Rolle in der Wirtschaft und der gesellschaftlichen und regulatorischen Herausforderungen geben fast alle (88%) der befragten Finanzinstitute an, dass der gesellschaftliche und regulatorische Druck hoch bleibt. Die Gesellschaft erwartet regionales Wirken und die gesellschaftliche Verantwortung ist für die Banken ein wichtiges Thema, bleibt aber eher diffus in der Umsetzung, zum Beispiel im Bereich der Nachhaltigkeit. Reizthemen bleiben Managerlöhne und die gerechte Verzinsung. Zudem wird die demografische Entwicklung als Megatrend die Banken noch lange beschäftigen.
Regulierung wird ambivalent beurteilt: Die Banken sehen in der Gesetzgebung durchaus ein Qualitätssiegel, das gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Erwartungen mit operativen Anforderungen verbindet und damit im Interesse des Finanzplatzes und der einzelnen Institute liegt. Kritisch gesehen werden aber nicht-proportionale Regulierung und Kostenimplikationen, insbesondere als Folge der Übernahme der Credit Suisse durch die UBS.
Nachhaltigkeit ohne wirtschaftlichen Mehrwert für die Banken
Es herrscht Einigkeit darüber, dass Nachhaltigkeitsinitiativen zwar zu einem Standard geworden sind und dass Nachhaltigkeit nur ein Differenzierungsmerkmal ist, wenn sie regional evident gemacht werden kann. Ein andauerndes, starkes Kundenbedürfnis, bedeutsame Ertragspotenziale und ein damit einhergehender wirtschaftlicher Mehrwert fehlen weitestgehend, sagen 57% der befragten Banken. Dafür steigen die Reputationsrisiken, aufgrund der höheren regulatorischen Anforderungen und der gesellschaftlichen Erwartungen. Banken fühlen sich bisweilen zunehmend in die Rolle eines «Nachhaltigkeitspolizisten» gedrängt und stören sich daran, dass sie mit dem Geld der Kunden Klimapolitik betreiben sollten. Die grösste Herausforderung sehen zwei Drittel der studienteilnehmenden Banken (66%) bei der Erstellung der Nachhaltigkeitsberichterstattung, zumal diese kaum Aussagekraft hätte.
Traditionelles Retailbanking bleibt ein erfolgreiches Geschäftsmodell
Retailbanken bleiben im Kern weiterhin die Ansprechpartner für Finanzieren, Sparen und Anlegen. Diese Dienstleistungen wird es immer brauchen. Zwei Drittel (63%) der befragten Banken sehen die traditionellen Geschäftsmodelle als Erfolgsgarant. Jedes vierte Institut (25%) stimmt dem nicht zu. Dabei zeigen die Expertengespräche: Es ist weniger das Geschäftsmodell per se, sondern die Ausgestaltung und Weiterentwicklung desselben. Roman Sandmeier, Partner bei EY Schweiz, Studienleiter und Mitverfasser, betont: «Der Fokus auf traditionelle Aufgaben entbindet die Branche nicht davon, sich stetig anzupassen.» Agilität wird etwa gefordert mit Blick auf makroökonomische Entwicklungen, Ertragsdiversifikation, Positionierung im Finanzökosystem, Kostenmanagement und Kundenausrichtung.
Es braucht neue Beratungsansätze
Das Retailbanking gilt als bodenständig und verlässlich, benötigt jedoch frischen Wind bei den Beratungsansätzen. Eine Mehrheit von 81% der befragten Institute befürwortet neue Beratungsansätze. Retailbanken sollten proaktiver auf Kunden zugehen, Lebensereignisse aktiver nutzen und mithilfe von Daten auch rechtzeitig erkennen. Man sollte Kunden über den gesamten Lebenszyklus begleiten. Ziel der Banken muss es sein, zur vertrauten Hausbank des Kunden zu werden. Die Beratung muss dazu einen ganzheitlicheren Mehrwert für den Kunden bieten. Der persönliche und vertrauensvolle Austausch bleibt entscheidend. KI wird das vorerst nicht ändern, aber die Bankberater im Hintergrund unterstützen und die Abläufe effizienter machen. Roman Sandmeier sagt: «Verglichen mit anderen Branchen besteht Raum für Verbesserung, u.a. bei der Nutzung und Analyse von Kundendaten – ein Schatz, den es erst noch zu heben gilt. Dass alle Banken seit Jahren die Kundenberatung ausbauen und kundenzentrierter gestalten wollen, ist weithin bekannt. Die Frage lautet daher eher, wieso dieses Ziel bislang nicht erreicht wurde.»
Müssen sich Retailbanken zum integrierten Finanzdienstleister wandeln?
Der Bedarf für eine Beratung wird bestätigt, insbesondere im Rahmen der Erweiterung des Bankangebots entlang von Lebensphasen und -ereignissen. Oft genannt wird die Finanzplanung als Grundlage für diese Beratung. Die Abstimmung von Angebot und Bedürfnissen gestaltet sich teilweise schwierig, weil Kunden zuerst aufgeklärt werden müssen – es fehlt an finanziellem Grundwissen (Financial Literacy). Ein noch umfassenderes Sortiment ausserhalb des erweiterten Bankangebots verkompliziert allerdings die Beratung und Prozesse. Rund die Hälfte (53%) der Studienteilnehmenden sieht ihre Zukunft als integrierter Finanzdienstleister. Rund ein Drittel (31%) steht diesem Konzept kritisch gegenüber. In den Gesprächen zeigte sich, die Beantwortung der Frage hängt primär davon ab, ob auch Versicherungsleistungen integriert werden sollen. Denn der Blick zu den Versicherungen gibt Anlass zu Skepsis bezüglich Bancassurance bzw. Allfinanz: Misserfolge in der Vergangenheit, die Komplexität des Geschäfts, die Regulierung und die Zurückhaltung bei Kooperationen lassen Retailbanken zögern.
Hohe Erwartungen an das Kundenerlebnis verursachen steigende Kosten
Die Kundenerwartungen an die Interaktionen mit Banken sind hoch. Den Komfort aus anderen Bereichen des täglichen Lebens wünscht man sich auch von Banken, zudem eine Verfügbarkeit rund um die Uhr auf allen Kanälen, möglichst ohne Unterbrüche und doch mit Interoperationalität. Man will bei einem Kanalwechsel, etwa von Online zum Bankberater, nicht nochmals dasselbe gefragt werden. Alle Kundenwünsche umzusetzen ist jedoch teuer, gerade aufgrund veralteter und komplizierter IT-Infrastrukturen. Die gute Nachricht für Kunden ist: Filialen behalten als Kanal ihre grosse Bedeutung und sind für einen hohen Marktanteil in den Regionen wichtig. Die Nutzungsart der Filialen wird weiter optimiert werden. Diese These erreichte die höchste Zustimmung. Fast alle befragten Banken (91%) stellen die hohen Erwartungen an das Kundenerlebnis in Relation zu steigenden Kosten.
Die Wertschöpfungstiefe wird sich zunehmend unterscheiden
Die Notwendigkeit, Prozesse bzw. das Design von Wertschöpfungsketten zu überprüfen, steht ausser Frage. Allerdings geben Banken selbst nicht gerne eigene Tätigkeiten an Dritte ab. Zwar gäbe es Tätigkeiten, die in Betracht kommen könnten, aber die Angst vor dem Kontrollverlust und vor Risiken ist gross und das Kosteneinsparungspotenzial oft zu tief. Unverhandelbar ist zudem die Kundenschnittstelle. Aufgrund der komfortablen Situation der Retailbanken ist der Druck, etwas zu unternehmen, insgesamt zu gering. Sollte aber eine Auslagerung künftig dennoch notwendig werden (z.B. aufgrund des Fachkräftemangels oder als Kostensenkungsmassnahme), muss dies genauestens vorbereitet werden, da zahlreiche Schnittstellen geschaffen werden müssen. Zwei Drittel (66%) der befragten Finanzinstitute sind sich einig, dass die Wertschöpfungstiefen der Retailbanken sich zunehmend unterscheiden werden.
Heutige Mitarbeiterprofile erfüllen zukünftige Anforderungen unzureichend
Bei der Rekrutierung geeigneter Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen stehen die Banken vor der Herausforderung, bestehende Stellenprofile an die Anforderungen der Zukunft anzupassen. Das bestätigen fast zwei Drittel (60%) der Retailbanken aus der Studie. Fast jede vierte Bank (24%) widerspricht dem. Gefordert ist eine Neuausrichtung der Berufsrollen, besonders in technischen Bereichen. Die Weiterbildung älterer Mitarbeitenden und die Ausbildung sowie Weiterentwicklung jüngerer Angestellter ist zentral. Demografische Veränderungen werden den Fachkräftemangel in Zukunft noch verschärfen. Um attraktiv für Talente zu bleiben, müssen Banken zudem ihren Mitarbeitenden sinnstiftende Arbeitsinhalte und gute Entwicklungsmöglichkeiten mit flexiblen Arbeitszeitmodellen anbieten.
Wie wahrscheinlich sind disruptive Veränderungen?
Abschliessend und rückblickend auf die zehn Thesen der Studie wurde untersucht, wie wahrscheinlich die studienteilnehmenden Banken disruptive Veränderungen erwarten. Mittelfristig werden disruptive Veränderungen mit einem Mittelwert von 17% tief eingeschätzt wird. Wenig überraschend wird die Eintrittswahrscheinlichkeit langfristig höher eingeschätzt. Hier liegt der Mittelwert bei 45%. Allerdings: Ab wann ist eine Entwicklung nicht mehr evolutionär, sondern disruptiv? Prof. Dr. Markus Schmid, Professor am Schweizerischen Institut für Banken und Finanzen der Universität St. Gallen und Mitverfasser der Studie, fasst zusammen: «Die Schweiz ist für das Retailbanking immer noch eine Wohlfühloase mit Platz für (fast) alle. Trotz Krebsgang verfügen die Margen nach wie vor über eine komfortable Knautschzone. Die Institute sehen auch weiterhin keine tektonische Veränderung im Wettbewerbsumfeld auf sie zukommen, jedenfalls nicht in der mittleren Frist.» Das Retailbanking wird es auch noch in zehn Jahren geben, das scheint für sie ebenfalls festzustehen. Dennoch: Die Teilnehmer sind sich grundsätzlich einig, dass vieles in Bewegung ist und dass die Banken ihrerseits in Bewegung bleiben müssen, um flexibel auf Veränderungen reagieren zu können oder gar selbst Veränderungen voranzutreiben. (ERY/mc/ps)
Über die Studie
Mit einem Spezialistenteam aus Vertretern des Schweizerischen Instituts für Banken und Finanzen der Universität St. Gallen sowie von Bankenberatern und -prüfern von EY wurden in einem ersten Schritt die Ausgangslage analysiert und daraus in einem zweiten Schritt zehn Thesen für die Studie abgeleitet. Diese sollen Themen ansprechen, die für die Entwicklung des Retailbankinggeschäfts in der Schweiz bis 2035 eine besondere Bedeutung haben werden. Viele Banken haben einen kürzeren strategischen Planungshorizont von drei bis fünf Jahren. Da sich das Geschäft aber evolutionär entwickelt und sich relevante Trends in der Regel über längere Zyklen entwickeln, wurde der Studie ein längerer Planungshorizont von rund zehn Jahren zu Grunde gelegt. Die zehn Thesen waren die Grundlage für den dritten Schritt, die Expertenbefragung, die im Frühling und Sommer 2024 durchgeführt wurde. Zu jeder These wurden die Ergebnisse aus den Interviews zusammengefasst und so die Markteinschätzung der Experten wiedergegeben. Als Teilnehmer konnten CEOs und andere Vertreter in leitender Funktion von 33 Retailbanken in der Schweiz gewonnen werden.