Frankfurt – Nach Jahren im Zinstief justiert die Europäische Zentralbank (EZB) ihre geldpolitische Strategie neu. Erstmals seit 2003 will die Notenbank eine umfassende Überprüfung auf den Weg bringen. Das beschloss der EZB-Rat am Donnerstag nach einem entsprechenden Vorstoss der neuen EZB-Präsidentin Christine Lagarde.
«Wir können nicht so operieren wie 2003 – was nicht heisst, dass wir dies oder jenes ändern müssen. Aber wir müssen uns umfassend mit der Wirksamkeit unserer Geldpolitik befassen», sagte Lagarde nach der Sitzung des EZB-Rates in Frankfurt. Sie bekräftigte: «Wir werden jeden Stein umdrehen.»
Kein rasches Ende der lockeren Geldpolitik
Ein rasches Ende des ultralockeren Kurses bedeutet dies aber nicht – zum Leidwesen von Sparern und Banken. Die Währungshüter halten den Leitzins im Euroraum auf dem Rekordtief von null Prozent. Banken müssen weiterhin 0,5 Prozent Zinsen zahlen, wenn sie Gelder bei der EZB parken. Zudem will die Notenbank auf unbestimmte Zeit monatlich 20 Milliarden Euro in den Kauf von Anleihen stecken.
Seit Jahren versucht die EZB, mit einer Flut billigen Geldes die Konjunktur im Euroraum anzukurbeln und die Inflation in Richtung der Zielmarke der Notenbank zu treiben. Hauptziel der Währungshüter sind stabile Preise im Euroraum. Die Notenbank strebt für den Währungsraum mit seinen 19 Ländern mittelfristig eine Jahresteuerungsrate von knapp unter 2,0 Prozent an – weit genug entfernt von der Nullmarke.
Dauerhaft niedrige oder auf breiter Front sinkende Preise könnten Unternehmen und Verbraucher verleiten, Investitionen aufzuschieben. Das kann die Wirtschaft bremsen. Nach jüngsten Zahlen des Statistikamtes Eurostat lagen die Verbraucherpreise im Euroraum im Dezember 1,3 Prozent über dem Stand des Vorjahresmonats. Seit Jahren liegt die Inflationsrate teils deutlich unter 2,0 Prozent.
Korridor für Teuerungszulage?
Unter Lagarde, die am 1. November ihr Amt antrat, hat daher eine Diskussion Fahrt aufgenommen, ob es für die Handlungsfähigkeit der Notenbank nicht sinnvoller wäre, einen Korridor als Ziel für die Teuerungsrate festzulegen.
In einem umfassenden Prozess will die EZB nun ihre Formulierung von Preisstabilität ebenso unter die Lupe nehmen wie das geldpolitische Instrumentarium und ihre gesamte Kommunikation. «Wir werden auf die Erwartungen der Menschen hören, um ihre Anliegen besser zu verstehen», versprach Lagarde. Auch externe Experten sollen eingebunden werden. November/Dezember dieses Jahres wäre aus Sicht Lagardes ein guter Zeitpunkt, die Ergebnisse der Strategieüberprüfung vorzustellen.
Lagarde: Aktuelle Geldpolitik auf absehbare Zeit nötig
Schon vor ihrem Amtsantritt in Frankfurt hatte die damalige Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) zugesichert, die Nebenwirkungen der seit Jahren ultralockeren Geldpolitik genauer unter die Lupe zu nehmen. Lagarde bekräftigt aber auch am Donnerstag, sie halte eine sehr lockere Geldpolitik auf absehbare Zeit für nötig.
Das Zinstief macht Banken und Sparern zu schaffen. Sparbuch und Tagesgeldkonten werfen im Grunde keine Zinsen mehr ab. Wer viel Geld bei der Bank hortet, dem drohen gar Negativzinsen. Kreditnehmer profitieren dagegen von vergleichsweise günstigen Konditionen.
Für Thomas Gitzel, Chefökonom der VP Bank, ist nun die interessante Frage, ob die EZB willens ist, mit den Negativzinsen Schluss zu machen. Die schwedische Notenbank hat vorgemacht, wie es gehen kann. Zwar bleibt der geldpolitische Rat grundsätzlich auf der expansiven Seite, doch es regt sich selbst in den südeuropäischen Ländern gewisser Widerstand gegenüber Negativzinsen. So sieht etwa auch der italienische Notenbankpräsident Negativzinsen mittlerweile kritisch. Höhere Zinsen würden möglich, wenn die EZB ihr Inflationsziel anpassen würde. Dies könnte bespielsweise über ein breites Inflationszielband geschehen.
Auf der entgegengesetzten Seite könnten die europäischen Währungshüter das Inflationsziel sogar anheben, was noch tiefere Negativzinsen nach sich ziehen könnte. Letzteres halte die VP Bank aber für unwahrscheinlich. Soviel stehe fest: Die EZB des Jahres 2021 wird nicht mehr vollständig vergleichbar sein mit der EZB des Jahres 2020. Die EZB werde sich unter Christine Lagarde wandeln, so Gitzel. Dies müsse auch für die kritischen Deutschen nichts Schlechtes bedeuten. «Es wird also zum Jahresende 2020 so richtig spannend werden», sagt Gitzel. (awp/mc/pg)