EZB-Präsident Mario Draghi.
Barcelona – Trotz der jüngsten Eintrübung der Konjunkturaussichten für die Eurozone wird die Europäische Zentralbank (EZB) ihren Leitzins nach Einschätzung von Volkswirten zunächst nicht antasten. Bei der jüngsten Entscheidung am Donnerstag sei eine Zinssenkung noch nicht mal diskutiert worden, sagte EZB-Chef Mario Draghi nach der auswärtigen Ratssitzung in Barcelona. Die Notenbank hatte den Leitzins zuvor auf dem Rekordtief von 1,0 Prozent belassen.
Nach zwei schnellen Zinssenkungen im November und Dezember 2011 tastet die Notenbank damit den Leitzins den fünften Monat in Folge nicht an. Hinweise auf erneute EZB-Langfristender gab Draghi nicht. Er bewertete die Folgen der riesigen Geldspritzen für die Banken der Eurozone zwar als positiv, man müsse die volle Wirkung aber noch abwarten.
Abwärtsrisiken überwiegen
Draghi verwies insbesondere auf die zuletzt schwächeren Frühindikatoren. Die Unsicherheit mit Blick auf den wirtschaftlichen Ausblick habe sich verstärkt. Die Abwärtsrisiken für den Wachstumsausblick würden überwiegen. Zuletzt hatten wichtige Stimmungsumfragen, insbesondere die Einkaufsmanagerindizes, deutlich nachgegeben. Vor allem in Italien waren die Kennzahlen stark rückläufig gewesen. Eine Änderung der Geldpolitik signalisierte Draghi aber nicht: «Die jüngsten Indikatoren reichen nicht aus, um unser grundlegendes Szenario zu ändern, das von einer allmählichen Konjunkturerholung im weiteren Jahresverlauf ausgeht.» Die Geldpolitik sei nach Einschätzung des EZB-Rats weiter akkommodierend – also die Konjunktur stützend.
Schmerzgrenze noch nicht erreicht
«Die erwartete schrittweise Konjunkturerholung im zweiten Halbjahr spricht jedoch gegen eine erneute Zinssenkung», sagte Commerzbank-Volkswirt Michael Schubert der Finanz-Nachrichtenagentur dpa-AFX. Zudem wolle die Notenbank die Wirkungen der beiden Langfristtender abwarten. Die Notenbank hält nach Einschätzung der Berenberg Bank die jüngste Konjunktureintrübung für nicht lange anhaltend. So habe die Notenbank die Abwärtsrisiken für die Konjunktur trotz der zuletzt schwachen Frühindikatoren nicht als «substanziell» bezeichnet, sagte EZB-Experte Christian Schulz. Die Notenbank betrachte die Stimulierung derzeit als ausreichend. «Die Schmerzgrenze ist für die EZB noch nicht erreicht.»
Die EZB verharrt nach Einschätzung der Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba) weiterhin in einer «abwartenden Haltung». Es habe weder Signale für eine weitere Leitzinssenkung noch für eine erhöhte Liquiditätsbereitstellung gegeben, sagte Helaba-Experte Ulrich Wortberg.
Erfolge in der Schuldenkrise
Leicht zuversichtlich gab sich der EZB-Chef mit Blick auf die Schuldenkrise: In der Haushaltspolitik seien signifikante Erfolge erzielt worden. Italien sei auf einem guten Weg, Spanien habe starke Anstrengungen unternommen. Einige Länder müssten aber noch mehr tun. Wachstumspotenziale sollten durch Reformen erschlossen werden. Notwendig sei mehr Wettbewerb vor allem auf den Güter- und Arbeitsmärkten. An der Inflationsfront sieht die EZB unterdessen wenig Bewegung: Der EZB-Chef bekräftige, im laufenden Jahr werde die Inflationsrate über zwei Prozent bleiben, bevor sie im Frühjahr 2013 unter diese Schwelle sinken dürfte. Die EZB strebt mittelfristig eine Inflationsrate von knapp zwei Prozent an. Derzeit liegt sie mit 2,6 Prozent deutlich höher. Die Risiken für die Inflationsentwicklung seien ausgewogen.
Inflationserwartungen fest verankert
Obwohl die EZB ihr Inflationsziel nunmehr seit Ende 2010 verfehlt, sprach Draghi von fest verankerten Inflationserwartungen. Erwartungen über die künftige Teuerung gelten geldpolitisch als bedeutsamer als aktuelle Inflationsraten. Sie werfen ein Licht auf die Glaubwürdigkeit der Notenbank und sind für die mittelfristige Zinspolitik entscheidend. Die EZB werde alle Entwicklungen genau beobachten und verhindern, dass inflationäre Risiken auf Löhne oder Preise durchschlügen, bekräftigte Draghi.
Langfristige Perspektive für den Euro
Draghi forderte zudem eine langfristige Perspektive für den Euro. «Wir müssen einen Pfad für den Euro festlegen: Wo wollen wir in zehn Jahren stehen?», sagte Europas oberster Währungshüter am Donnerstag in Barcelona. Der Italiener betonte: «Eine Transferunion kann nicht der Ausgangspunkt dafür sein.» Draghi sprach sich erneut dafür aus, den angestrebten Fiskalpakt durch einen Wachstumspakt zu flankieren. Notwendig seien weitere Strukturreformen und eine Vertiefung des Binnenmarktes.
Euro gewinnt – Aktien verlieren
An den Finanzmärkten sorgte die Zinsentscheidung an sich für wenig Überraschung. Die Aussagen Draghis hingegen verliehen dem Euro vorübergehend kräftigen Aufwind. Händler verwiesen auf die Äusserung, dass im EZB-Rat keine Zinssenkungen diskutiert worden seien. In der Folge legte der Euro um gut einen halben Cent zu und stieg zeitweise auf sein Tageshoch bei 1,3180 US-Dollar. Zuletzt fiel der Eurokurs etwas zurück und wurde mit 1,3149 Dollar gehandelt. Die Aktienmärkte reagierten hingegen mit Kursverlusten. Vor der EZB-Zinssitzung hatte es vereinzelt Spekulationen gegeben, die Notenbank könnte angesichts enttäuschender Konjunkturdaten eine weitere Zinssenkung signalisieren. (awp/mc/ps)