Lange Zeit hielt ich Augmented Reality und Virtual Reality (AR/VR) für beeindruckende Technologien und überzeugende Investitionsthemen, die aber nicht unbedingt für mich als Verbraucher geeignet sind. Dennoch habe ich mir letztes Jahr ein Oculus-VR-Headset gekauft und damit Netflix geschaut, ein Star-Wars-Videospiel gespielt und einige wunderschöne Orte «besucht», die ich noch nicht auf meiner Bucket List abgehakt habe. Mein 11-jähriger Sohn ist damit ein paar Mal zum VR-Bowling gegangen, aber wie bei mir hat der Reiz des Neuen nachgelassen. Oculus hat unbestreitbar coole Funktionen wie Motion Tracking, integriertes Audio und eine riesige Bibliothek mit Spielen und Erlebnissen. Aber die fehlende Verbindung zu meiner physischen Umgebung, während ich das Headset trage, hat mir nicht gefallen.
von Jon Maier, CIO Global X
Eine Person, die ich kenne und die immer von immersiven Technologien wie AR/VR und dem Metaverse überzeugt war, ist Pedro Palandrani, Global X Director of Research. Er und ich führen seit Jahren ein Gespräch über ihre Vorzüge. Pedro lobte immer wieder ihre Vorzüge, aber ich konnte mich mit dem Argument nicht so recht anfreunden. Spulen wir vor zur CES 2023, die Pedro und ich im Januar besuchten. Dort änderte sich meine Einstellung zu diesen Technologien.
VR-Klarheit in einer Unterwasser-Biosphäre
Mehr Interaktion der Verbraucher mit AR/VR und dem Metaverse ist notwendig, damit diese Technologien auf breiter Ebene akzeptiert und angenommen werden. Ich halte es jedoch für wichtig, hervorzuheben, wo diese Technologien in zunehmendem Masse für ihren Nutzen eingesetzt werden – in der Industrie. Ich glaube, dass ihre industriellen Anwendungen den Anlegern am besten dabei helfen können, zu verstehen, wohin sich dieser Umbruch entwickelt.
Diese Gedanken kamen mir, als ich die CES besuchte und die neuesten immersiven Technologien der Spielehersteller bemerkte, die ein Synonym für die CES sind. Sie waren auch dieses Jahr wieder mit einer Vielzahl neuer Funktionen zu sehen, darunter haptische Körperanzüge, die die menschlichen Sinne ansprechen. Aber es war kein Spielehersteller, der mich in das Metaverse zog, sondern ein deutscher Industriehersteller.
Ich besuchte den Stand von Siemens im Industrieflügel des VR-Showcase, und bevor ich mich versah, hatte ich ein Headset auf. Die VR von Siemens führte mich in eine simulierte Biosphäre namens Nemo’s Garden, dem italienischen Partner des Unternehmens, der die Bedingungen des Ozeans nutzt, um eine Unterwasserumgebung zu schaffen, in der Pflanzen angebaut werden können.
Für das Projekt nutzte Siemens die Technologie des digitalen Zwillings, um eine exakte 3D-Nachbildung der Farm und ihrer Unterwasserumgebung zu erstellen. Die Nachbildung gibt den Forschern die Möglichkeit, die Farm kontinuierlich zu überwachen, zu testen und anzupassen, wie es sonst kaum möglich wäre.
Was mir bei der Besichtigung des Projekts auffiel, war die Praktikabilität des Metaverse-Anwendungsfalls. Es ging nicht um Unterhaltung, es ging um Landwirtschaft. Auch die Automobilindustrie, das Gesundheitswesen, die Fertigungsindustrie und der Einzelhandel und viele andere Branchen sehen den praktischen Nutzen darin.
Die Effizienz des digitalen Zwillings ist einen doppelten Blick wert
Der Einsatz von künstlicher Intelligenz und Echtzeit-Sensoreingaben zur Erstellung und Prüfung vollständiger 3D-Nachbildungen von Systemen fasziniert mich. Ich glaube, dass die betriebliche Effizienz, die Kosteneinsparungen und die Möglichkeiten des Krisenmanagements, die sich aus der Technologie des digitalen Zwillings ergeben, die Branche verändern können. Der derzeitige wirtschaftliche Gegenwind, der Rückgang der Globalisierung und die Zunahme des Reshorings sowie die Bemühungen der Unternehmen um Nachhaltigkeit können dazu beitragen, die Einführung dieser Technologie zu beschleunigen.
Heute werden digitale Zwillingstechnologien in erster Linie zur Überwachung und Analyse eingesetzt. Landwirte beispielsweise nutzen digitale Zwillinge zur Überwachung der Pflanzenbiologie und zur Bestimmung optimaler Pflanzstandorte für Pflanzenarten. Bauunternehmen nutzen digitale Zwillinge, um künftige Projekte auf ihre potenziellen Auswirkungen auf die Landschaft und die bestehende Infrastruktur zu analysieren und um abgeschlossene Projekte auf Stärken und Schwächen zu untersuchen.
Schliesslich könnten industrielle Nutzer über die Überwachung hinausgehen und z. B. in der Lage sein, Vorgänge in Fabrikhallen virtuell zu replizieren und zu manipulieren. Die Arbeiter könnten die Abläufe von ihrem Schreibtisch aus überwachen, während die Roboter gleichzeitig Aufgaben in der physischen und digitalen Welt der Fabrik erledigen.
Umgekehrter Technologietransfer ein wahrscheinlicher Trend
Historisch gesehen bietet das Militär gute Beispiele dafür, wie Technologietransfer funktioniert. Kurz gesagt, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung führen zu einem Endprodukt für militärische Zwecke, das schliesslich seinen Weg auf den zivilen Markt findet. Wir können dem Militär Produkte wie den Jeep, die Mikrowelle und Orangensaftkonzentrat verdanken.
Manchmal funktioniert der Technologietransfer auch in umgekehrter Richtung, und VR scheint ein treffendes Beispiel zu sein. Während VR vor allem als Verbraucherprodukt entstanden ist, deutet ihre derzeitige Entwicklung darauf hin, dass eine breite Akzeptanz in verschiedenen Branchen dazu beitragen kann, dass sie allgegenwärtig wird. Der Einsatz von VR in der Industrie kann diesen Transfer unter anderem durch Schulungen am Arbeitsplatz erleichtern, die den Unternehmen neue Effizienzgewinne bringen und neue Nutzer mit der Technologie vertraut machen. Lincoln Electric, einer der weltweit grössten Hersteller von Schweissgeräten, hat herausgefunden, dass er mit VR Schweisser in 23 % weniger Zeit ausbilden und die Kosten um fast 250 US-Dollar pro Schüler senken konnte. Branchenführer wie Volkswagen, Boeing und Loft Dynamics nutzen VR ebenfalls, um die Ausbildungszeit und -kosten zu senken.
Es würde mich überraschen, wenn VR-Schulungen mit zunehmender Rollenspielfähigkeit nicht auch für Ärzte, Verkäufer, Einzelhandelsmitarbeiter und vielleicht sogar für uns an der Wall Street alltäglich werden.
Ich bin mit an Bord.
(Global X/mc)