Von Ad van Tiggelen, Senior Investment Specialist in der Abteilung Investment Content Management bei ING Investment Management.
Frankfurt am Main – Es mutet seltsam an, dass die Eurozone zu einer Zeit, da der Nahe Osten nach Demokratie strebt, ihr eigenes demokratisches System erstmals herausgefordert sieht. Die Politiker scheinen die Euro-Familie mit aller Entschlossenheit zusammenhalten zu wollen und das ist im Hinblick auf das Verhältnis zwischen finanziellen Risiken und Ertrag durchaus verständlich. Ein unkontrollierter Staatsbankrott Griechenlands hätte ernste Folgen für die gesamte Eurozone. Die politisch Verantwortlichen wissen das, doch die Meinungsschere zwischen ihnen und ihren Wählern weitet sich aus.
In den meisten grossen EU-Ländern finden 2012 und 2013 Parlamentswahlen statt. Letztendlich wird die Zukunft der Eurozone also von ihren Wählern bestimmt. In einer immer komplexeren Finanzwelt, in der Wähler kaum eine Vorstellung davon haben, was sich hinter Begriffen wie «Leerverkäufe», «länderübergreifendes Exposure» oder «Credit Default Swaps» verbirgt, muss man sich fragen, ob der Euro die Demokratie überstehen kann. Liesse man zu, dass Griechenland seine Verpflichtungen – auch nur teilweise – nicht erfüllt, so bestünde die reale Gefahr einer schweren Vertrauenskrise und eines Dominoeffekts. Dann könnten die Schulden anderer EWU-Wackelkandidaten spekulativen Wetten zum Opfer fallen. Gleichzeitig müsste man wie 2008 nach der Lehman-Pleite mit starken Turbulenzen am CDS-Markt rechnen, also am Markt für Kreditausfall-Swaps, die sozusagen eine Kreditversicherung darstellen. In einem solchen Szenario würden Banken, Versicherer und Pensionskassen in allen EWU-Ländern massive Abschreibungen hinnehmen müssen.
Darwinismus verdrängt die Wohlfahrtsgesellschaft
Leider besteht über diese Konsequenzen nur wenig Klarheit bei den Wählern in der Eurozone, u. a. auch deswegen, weil hier nicht klar genug informiert wird. Im Norden wächst in der Bevölkerung die Aversion gegen die Subventionierung des Südens, während sich im Süden immer stärkerer Widerstand gegen die Sparmassnahmen regt. Dabei bestimmt nicht der Verstand, sondern das Gefühl das Meinungsbild. Jene Demonstranten, die in Griechenland gegen die Sparmassnahmen auf die Strasse gehen, sind sich nicht darüber im Klaren, dass ihr Land bei Wiedereinführung der Drachme auf das Niveau eines Entwicklungslandes sinken würde. Es lässt sich nicht leugnen, dass wir in einer alternden Gesellschaft leben, die Teil der vom Wettbewerb geprägten globalisierten Welt ist. Kalter Darwinismus verdrängt zunehmend die gemütliche Wohlfahrtsgesellschaft der Nachkriegszeit.
Regionale Ungleichheiten
Die wahre Tragödie der Eurozone ist natürlich, dass im Grossen und Ganzen gar keine drängenden fiskalischen Probleme bestehen. Das Haushaltsdefizit der gesamten EWU lag im letzten Jahr bei 6 Prozent, also sehr viel niedriger als in den USA und in Grossbritannien. Auch die Schuldenquote der Eurozone beträgt «nur» 85 Prozent und gibt daher im Vergleich zu anderen Industrieländern kaum Anlass zur Sorge. Das eigentliche Problem besteht darin, dass die fiskalische Kapazität sich nicht gleichmässig über die Mitgliedstaaten verteilt. Hier müssen in den kommenden Jahren Korrekturen erfolgen, falls die Eurozone in ihrer gegenwärtigen Form überleben soll.
Politiker spielen auf Zeit
Insofern mag 2011 das Jahr der Wahrheit sein, wenn die Wähler vom langfristigen Sinn der aktuellen Massnahmen von EU, EZB und IWF zu überzeugen sind. Erweisen sich die Wähler hier als überzeugungsresistent, könnten antieuropäische Politiker bzw. Politiker, die einen Anti-Sparkurs steuern, in den nächsten Jahren erheblichen Zulauf erhalten. Die Politiker spielen jetzt auf Zeit, um dem Wahlvolk diese Botschaft zu vermitteln und einen massiven Verkauf griechischer Vermögenswerte voranzutreiben. Zugleich will man nichts überstürzen, um sicherzustellen, dass eine mögliche Umschuldung oder sogar eine eventuelle Zahlungsunfähigkeit so weit wie möglich risikogesteuert stattfindet.
Eurokrise bleibt Risikofaktor
All das bedeutet, dass die Eurokrise bis auf weiteres ein Risikofaktor für Investoren bleiben wird. Das ist wirklich schade, denn europäische Aktien sind eine attraktive Asset-Klasse, vor allem im Vergleich zu den zwar sicheren, aber niedrigrentierlichen (3 Prozent!) Bundesanleihen. Zudem sind Aktien recht preisgünstig, werfen gute Dividenden ab und die Unternehmensbilanzen sind solide. Aber dennoch rechtfertigen die mit der Eurokrise verbundenen Unsicherheiten zum Teil die unter dem normalen Niveau liegende Bewertung, vor allem bei den stärker am Binnenmarkt orientierten Unternehmen. (ING IM/mc/ps)