Dr. Alex Durrer, Chief Economist LGT. (Foto: LGT)
Vaduz Anfang 2016 kommt es erstmals formell zur Anklage gegen den etablierten Bullmarkt. Ein erstinstanzliches Urteil fällten die Märkte noch im Verlauf des Januars. Doch wie üblich wird diese vorschnelle Verurteilung innerhalb einer charttechnisch nützlichen Frist angefochten … Bereits 2015 ist die Luft dünn geworden an den Finanzmärkten. Höhenrausch und Absturzpanik haben sich mit hoher Kadenz abgewechselt. Kein Wunder, nachdem viele Aktienmärkte immer höhere Gipfel erklommen und seit den Tiefs vom März 2009 weit über hundert Prozent an Höhe zugelegt haben. «Das letztinstanzliche Urteil steht noch aus. Der Prozess zieht sich – wie so oft bei schwerwiegenden Fällen – in die Länge. Weder Bullen noch Bären sollten sich in falscher Sicherheit wähnen.» Es muss mit trendloser Volatilität gerechnet werden, meint der Chefökonom der LGT Bank.
So konnte und durfte nicht überraschen, dass diffuse Sorgen rund um die geopolitische Risikolandschaft mit all ihren vertrackten Konflikten und verschiedenste Ängste – vor einem ungeordneten GREXIT-Szenario, vor Verwerfungen als Folge eines Währungsregimewechsels in China bis hin zu einer «harten Landung» der zweitgrössten Volkswirtschaft – wiederholt virulent geworden sind. Allmählich häuften sich die belastenden Anzeichen – schleichend sind Argwohn und Skepsis herangereift.
Anfang 2016 kommt es erstmals formell zur Anklage gegen den etablierten Bullmarkt: Der Auftakt ins neue Börsenjahr ist gründlich missglückt. Bereits nach der ersten Handelswoche notieren alle wichtigen Aktienindizes zwischen fünf und acht Prozent im Minus. Im Handumdrehen ist die Tatbestandsliste der (an)klagenden Investoren lang geworden: Zu den geopolitischen Spannungen in Nahost gesellen sich unverhofft enttäuschende Konjunkturdaten aus den USA und China sowie ins Bodenlose fallende Rohstoffpreise – eine Kombination, welche die Stimmung rapide abkühlt. Bereits wird da und dort im Zusammenhang mit dem ersten, vergangenen Dezember gewiss nicht unvorsichtig verordneten US-Zinsschritt von einem Politik-Fehler gesprochen und ein Übungsabbruch postuliert.
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Bleibt die Interpretationsfrage: Handelt es sich nun um attraktive Kaufgelegenheiten, wie man sie in den letzten Jahren immer wieder erlebt hat? Oder sind dies unmissverständliche Vorboten für das Ende des Konjunktur- und Börsenzyklus? «Wie der Januar, so das ganze Jahr», lautet eine gängige Börsenweisheit. Wonach der schlechteste Jahresauftakt seit Dekaden vorweggenommen hätte, dass das Marktregime der Bären angebrochen wäre. Kurzer Prozess mit dem Bullmarkt? Doch wie üblich wird diese vorschnelle Verurteilung von der Gegenpartei der Bären innerhalb einer charttechnisch nützlichen Frist angefochten – die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Auch an den Finanzmärkten gilt die allgemeine Unschuldsvermutung «im Zweifel für den Angeklagten». Deshalb verläuft ein Übergang von Haussephasen zu Baissen, selbst wenn er dereinst zu bestätigen wäre, nicht abrupt und ohne Vorwarnung. Letzteres wäre ausschliesslich nach Perioden irrationaler Übertreibung unter Blasenbildung die Norm, was nach den einschlägigen Bewertungskriterien gegenwärtig nicht zu konstatieren war.
Rezessionsrisiko gering
Was lässt sich zur Verteidigung des Bullmarkts ins Feld führen? Die konjunkturellen Perspektiven haben sich nach einer Vielzahl einzelner, für sich jeweils unspektakulärer Rückschläge weltweit eingetrübt. Insgesamt deuten die Zahlen auf eine Abschwächung hin, womit das Rezessionsrisiko zwar ohne Zweifel angestiegen, bis dato aber immer noch als gering einzustufen ist. Dies ist besonders der Entwicklung der US-amerikanischen Wirtschaft zuzuschreiben, die wir – wie bereits in den Vorjahren – in ihrer saisontypischen Erst-Quartalsschwäche sehen. Gemäss einschlägigen Frühindikatoren (plus einem Vertrauensbonus im Zweifelsfall) sind die Chancen intakt, dass es dabei bleibt: dass Amerika seinen Wachstumskurs mittelfristig fortsetzt und eine wichtige Stütze der Weltkonjunktur bleibt. In diesem Sinne wäre denn auch die vorschnell schlechtgeredete Leitzinserhöhung als positives Zeichen für die Konjunktur zu werten – schliesslich hat die Vorsitzende der US-Notenbank den Schritt nur gewagt, weil sie den Wirtschaftsgang für ausreichend robust gehalten hat. Auch im Fall Chinas kann von einer harten Landung nicht die Rede sein, und der tiefe Erdölpreis schliesslich wird sich vorwiegend positiv auf die Weltwirtschaft auswirken.
Chronisch können Märkte und Fundamentaldaten nicht auseinander driften
Gilt an den Börsen auch das Prinzip der Verhältnismässigkeit? Divergenzen zwischen ökonomischen Befunden und Marktbefinden stellen – wenngleich nicht in extremis – eher die Norm als einen Ausnahmezustand dar. Weil erstere nie exakt bzw. erst verzögert bekannt sind oder externe, nicht-ökonomische Faktoren im Spiel sind. Nichts desto trotz muss jeder Wendepunkt an den Börsen über kurz oder lang vom Konjunkturverlauf bestätigt werden und umgekehrt. Zusammengefasst gilt, dass die gegenwärtigen Turbulenzen den nicht allzu kurzfristig orientierten Investoren gute Kaufgelegenheiten schaffen, sofern bzw. solange sie keine Rezession anzeigen oder provozieren. Denn chronisch können Märkte und Fundamentaldaten nicht auseinanderdriften – à la longue bewegen sie sich im Gleichschritt. Das letztinstanzliche Urteil steht also noch aus. Der Prozess zieht sich – wie so oft bei schwerwiegenden Fällen – in die Länge.
Es muss mit trendloser Volatilität gerechnet werden
Weder Bullen noch Bären sollten sich in falscher Sicherheit wähnen – bis auf weiteres bleibt die Regime-Frage unentschieden. Es herrscht ein transitorischer Mittelweg in Gestalt langer, trendloser Volatilität. Es kann durchaus Monate dauern, bis sich ein neuer Trend etabliert: entweder zurück zum vorangegangenen Aufwärtspfad oder dann definitiv (aber wenigstens nicht mehr unverhofft) nach unten. Investoren beider Lager stehen grundsätzlich vor der Wahl, diese Zwischenphase entweder unbeirrt auszusitzen oder sich die unvermeidlichen Schwankungsschübe flexibel und antizyklisch nutzbar zu machen. In jedem Fall tut man gut daran, die verbleibende Zeit für eine kritische Überprüfung von Risikoappetit und Risikofähigkeit zu nutzen, so die LGT. Beides wird nach längeren Haussen gerne überschätzt. Falsch wäre, mögliche Prozess-Entwicklungen – sowohl willkommene als auch unliebsame – allein deshalb ausser Acht zu lassen, weil sie subjektiv «ungerechtfertigt » oder «unlogisch» wirken. «Das letztinstanzliche Urteil steht noch aus. Der Prozess zieht sich – wie so oft bei schwerwiegenden Fällen – in die Länge. Weder Bullen noch Bären sollten sich in falscher Sicherheit wähnen.»