EY: Europas Gewicht an den Weltbörsen sinkt nach Brexit weiter

Stefan Rösch-Rütsche

Stefan Rösch-Rütsche, Managing Partner Transactions bei EY Schweiz. (Foto: EY)

Zürich – Apple, Alphabet (Google) und Microsoft verlieren an Wert – sie bleiben aber die teuersten Unternehmen der Welt. Gemäss einer aktuellen EY-Studie kommen die zehn wertvollsten Konzerne weiterhin aus den USA. Europa verliert an Bedeutung. Neu haben nur noch 23 der 100 teuersten Unternehmen weltweit ihren Sitz in Europa – das sind sechs weniger als vor einem Jahr. Auch die Schweiz verliert drei Unternehmen in den Top 100 und ist aktuell noch mit acht Konzernen vertreten.

Die Marktturbulenzen nach der Brexit-Abstimmung haben auch im Ranking der wertvollsten Unternehmen der Welt Spuren hinterlassen: So sank der Gesamtwert der 100 teuersten Unternehmen der Welt seit dem 22. Juni – dem Tag vor dem Volksentscheid in Grossbritannien – um knapp 340 Milliarden US-Dollar von 15,6 auf 15,2 Billionen US-Dollar1 . Der Börsenwert der drei Schweizer Unternehmen Nestlé, Novartis und Roche schrumpfte um rund 7,7 Milliarden US-Dollar, wie die aktuelle Analyse der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft EY zur Marktkapitalisierung der 100 bzw. 300 am höchsten bewerteten Unternehmen weltweit ergab.

Aktuell haben nur noch 23 der 100 wertvollsten Unternehmen der Welt ihren Hauptsitz in Europa – Mitte 2015 waren es noch 28. Im Gegenzug steigt das Gewicht der US-Konzerne an den Weltbörsen: Derzeit stammen 57 Unternehmen im Top-100-Ranking aus Nordamerika, vor einem Jahr lag ihr Anteil bei 55 Prozent.

Die zehn wertvollsten Unternehmen der Welt haben alle ihren Sitz in den Vereinigten Staaten und der teuerste Konzern der Welt bleibt Apple: Der Börsenwert des iPhone-Herstellers ist zwar seit Anfang des Jahres um rund 74 Milliarden US-Dollar bzw. 13 Prozent gesunken. Das Unternehmen bleibt aber mit einer Marktkapitalisierung von 513 Milliarden US-Dollar die weltweite Nummer Eins vor dem Google-Mutterkonzern Alphabet, dessen Börsenwert im Lauf des vergangen Halbjahrs ebenfalls deutlich – um 11 Prozent – gesunken ist und aktuell 471 Milliarden US-Dollar entspricht. Danach folgt der US-Technologiekonzern Microsoft mit einem Börsenwert von derzeit 389 Milliarden US-Dollar – das sind 12 Prozent weniger als zum Jahresende 2015.

Schweizer Konzerne haben Plätze eingebüsst
Das teuerste Schweizer Unternehmen ist Nestlé, das gleichzeitig auch das höchst bewertete europäische Unternehmen ist: Der Nahrungsmittelkonzern belegt mit einem Börsenwert von rund 225 Milliarden US-Dollar den 14. Rang im weltweiten Börsenranking. Roche folgt mit einer Marktkapitalisierung von 214 Milliarden US-Dollar auf Rang 19, während Novartis den 29. Platz belegt (183 Milliarden US-Dollar).

Während die Marktkapitalisierung der 100 höchstbewerteten Unternehmen der Welt im Lauf des ersten Halbjahres nur um zwei Prozent schrumpfte, verzeichneten die drei Schweizer Unternehmen einen Einbruch um gut acht Prozent. Im Länderranking behauptet sich die Schweiz auf dem siebten Platz – hinter den USA, China, Grossbritannien, Japan, Frankreich und Deutschland. Gemessen an der Gesamtmarktkapitalisierung belegt die Schweiz im Top­100 Ranking weiterhin den vierten Platz.

Stefan Rösch-Rütsche, Partner und Leiter Transaktionsdienstleistungen bei EY Schweiz führt den starken Wertverlust der Schweizer Konzerne auf ihren hohen Internationalisierungsgrad zurück: «Die grossen SMI-Konzerne erwirtschaften im Schnitt um die 90 Prozent ihres Umsatzes im Ausland und sind damit abhängig von einem freien Welthandel und einem Fortschreiten der Globalisierung.» Der Brexit könnte nun eine entgegengesetzte Entwicklung einläuten, fürchtet Rösch-Rütsche: «Neue Grenzen innerhalb Europas, Protektionismus und Abschottung wären für die Schweiz und die wirtschaftliche Tätigkeit ihrer Top-Konzerne schädlich.»

Für die Schweizer Wirtschaft stehe aktuell viel auf dem Spiel, betont Rösch-Rütsche: «Grossbritannien ist ein wichtiger Abnehmer von Schweizer Produkten und Dienstleistungen. Falls die britische Wirtschaft leiden sollte, wird sich dies auch auf die Schweiz auswirken.» Einige Schweizer Konzerne, vor allem im Finanzsektor, verloren stark an Börsenwert: UBS sank im Ranking gegenüber Jahresende 2015 von Rang 105 auf 184, für die Zurich ging es um 17 Plätze nach unten (von Rang 252 auf 269).

Dominanz der US-Konzerne nimmt weiter zu
Der Börsenwert der US-Konzerne entwickelt sich deutlich besser als der der europäischen Konkurrenz: Während 58 Prozent der aktuell in den Top 100 gelisteten nordamerikanischen Konzerne ihren Börsenwert seit Jahresbeginn steigern konnten, gelang dies nur 35 Prozent der europäischen Top-Konzerne. Der Gesamtwert der US-Konzerne liegt derzeit bei 9,7 Billionen US-Dollar – und damit mehr als dreimal so hoch wie der Wert der europäischen Konzerne im Top-100-Ranking, die zusammen nur 2,7 Billionen US-Dollar wert sind.

Gemäss Stefan Rösch-Rütsche verkauft sich Europa derzeit unter Wert. «Wir erleben einen robusten Konjunkturaufschwung, sinkende Arbeitslosigkeit und eine insgesamt gute Umsatz­und Gewinnentwicklung. Trotzdem sinken die Aktienkurse derzeit bei vielen europäischen Top-Konzernen».

Dass Investoren skeptisch auf den Kontinent blicken, sei angesichts der Vielzahl an Negativ-Schlagzeilen – ob Brexit, Griechenland-, Schulden- oder Flüchtlingskrise – allerdings kaum erstaunlich, so Rösch-Rütsche. «In den kommenden Monaten wird die Volatilität an den Kapitalmärkten, angeheizt durch das Brexit-Votum, sicherlich anhalten. Wirklich positive Impulse, wie etwa eine Wachstumsstrategie für Europa, sind derzeit kaum sichtbar.»

USA bei Digitalisierung vorne
Die dominante Position der US-Konzerne an den Börsen sei aber nicht allein auf die Schwäche Europas zurückzuführen, ist Rösch-Rütsche überzeugt: «Europa ist in vielen Wirtschaftszweigen stark, aber die US-Wirtschaft hat in den vergangenen Jahren eine bemerkenswerte Dynamik an den Tag gelegt und weist vor allem den moderneren und zukunftsweisenderen Branchenmix auf. Aktuell sind die drei höchstbewerteten Unternehmen der Welt US-amerikanische IT-Konzerne – dem hat Europa wenig entgegenzusetzen. Die USA haben im Zeitalter der Digitalisierung bisher die Nase vorn.»

Im Ranking der 300 teuersten Unternehmen der Welt können sich aktuell insgesamt 31 IT-Konzerne (Computer/Internet/Software) platzieren – 18 davon haben ihren Sitz in den USA, zehn sind in Asien ansässig und gerade einmal drei Unternehmen kommen aus Europa. Der Börsenwert der US-IT-Konzerne in den Top 300 liegt bei knapp 4,1 Billionen US-Dollar – die drei IT-Konzerne mit Sitz in Europa – SAP, Accenture und der niederländische Ausrüster der Chipindustrie ASML – sind zusammen nur 193 Milliarden US-Dollar wert.

«In Europa geben nach wie vor klassische Industriekonzerne den Ton an, während sich in den USA die IT-Industrie zur Leitbranche entwickelt hat. Und auch in Asien entsteht ein starker und dynamischer IT-Sektor», stellt Rösch-Rütsche fest. Er führt die starke Entwicklung in den USA und Asien auf die höhere Risikobereitschaft amerikanischer und asiatischer Unternehmens­gründer, die hohe gesellschaftliche Akzeptanz des Unternehmertums sowie die teilweise deutlich besseren Finanzierungsbedingungen zurück: «Vor allem in den USA ist es jungen Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten gelungen, völlig neue Konzepte und Geschäftsmodelle zu entwickeln und damit ganze Branchen zu revolutionieren – diese Unternehmermentalität zahlt sich jetzt aus.»

Schweizer Konzerne haben Potenzial
«Die Digitalisierung erfasst in enormem Tempo alle Branchen und Lebensbereiche – darin steckt noch grosses Potenzial für einzelne Unternehmen und für ganze Volkswirtschaften. Wir erleben eine fundamentale Umwälzung und die Regeln werden von amerikanischen IT-Konzernen gemacht. Die meisten Schweizer Konzerne arbeiten zwar daran, die eigenen Geschäftsmodelle, die Prozesse und auch die Unternehmenskultur fit zu machen für die digitale Wirtschaftswelt, es steht aber ein hartes Stück Arbeit bevor, um im Wettbewerb mit den US-Technologiegiganten wieder in die Offensive zu kommen», analysiert Rösch-Rütsche.

Gemäss Rösch-Rütsche stehen die Chancen gut, dass Schweizer Konzerne mittelfristig zu den Gewinnern der Digitalisierung gehören können: «Die Digitalisierung birgt für Hochlohnstandorte wie die Schweiz enorme Potenziale. In der Schweiz produzierende Unternehmen werden in den kommenden Jahren die immer engere Verzahnung der industriellen Produktion mit den IT-Systemen und den verstärkten Einsatz von Robotern vorantreiben, um Produktivitätsfortschritte und Kostenvorteile zu erzielen und die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Im Bereich Industrie 4.0 könnten daher neue Player entstehen, die das Potenzial haben, die Art und Weise, wie in Zukunft produziert wird, entscheidend zu prägen und die in diesem Bereich den US-Konzernen Paroli bieten können.» (EY/mc/ps)

1 Stand 28.06., Börsenschluss

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