Von Helmuth Fuchs
Moneycab: Herr Borini, Descartes setzt als kleiner Anbieter auf neue Technologien und den Open-Banking-Ansatz. Mit welcher Strategie wollen Sie erfolgreich sein in einem Markt, der mit Grossunternehmen, Neobanken und Fintechs schon ziemlich überbevölkert ist?
Rino Borini: Ganz einfach, indem wir ein attraktives Ökosystem mit Kooperationen schaffen. Einerseits haben wir eine hochmoderne und erprobte Plattform in unserem B2C-Geschäft im Einsatz – ohne Kinderkrankheiten –, die mit APIs kommunizieren kann. Andererseits nutzen wir unser langjähriges Finanz-Wissen, setzen auf wissenschaftlich-basierte Konzepte, sind unabhängig und bringen grosse Kundenerfahrungen ein. Mit dieser Kombination sind wir ein attraktiver BaaS-Anbieter (Banking as a Service) und ein starker Partner für Firmen, die keine eigene digitale Lösung bauen wollen oder können.
Wichtig zu verstehen ist, dass man mit einem guten Onboarding oder der digitalen Verwaltung einer Säule-3a-Wertpapierlösung keinen Pokal gewinnt. Den Pokal gewinnt man, indem man Finanzwissen in eine exzellente Beratung und in eine tolle Customer Journey verpackt. Das tun wir bei Descartes bereits seit 2015. Und das bieten wir auch Banken und Versicherungen an.
Grossbanken sehen dem Open Banking mit eher wenig Enthusiasmus entgegen, da sie traditionellerweise alles selbst entwickeln und umsetzen und kaum daran interessiert sind, ihre Plattformen zu öffnen und Kundenbeziehungen zu teilen. Weshalb und wie soll sich das ändern, welche Rolle möchte Descartes dabei spielen?
Wir sehen Chancen im Open Banking und keine Gefahren. Wenn eine Bank «Kundenzentriertheit» auf ihr Strategiepapier schreibt, was ja alle tun, dann ist Open Banking eine logische Folgerung. Das muss man nicht diskutieren – es ist einfach so. Ich verstehe nicht, wieso so viele Banken damit Mühe haben. Dass Open Banking enorme Chancen bietet, das sieht sogar Bundesrat Ueli Maurer. Und ich spüre, dass, wenn es nicht vorwärts geht, die zweitbeste Option greifen wird: Das wäre dann eine Regulierung und das wollen wir nun wirklich nicht.
«Wichtig zu verstehen ist, dass man mit einem guten Onboarding oder der digitalen Verwaltung einer Säule-3a-Wertpapierlösung keinen Pokal gewinnt. Den Pokal gewinnt man, indem man Finanzwissen in eine exzellente Beratung und in eine tolle Customer Journey verpackt.» Rino Borini, VR-Präsident Descartes Finance
Wir bei Descartes können mit unserem B2B- beziehungsweise B2B2C-Arm Banken und anderen Anbietern in ihrer Open-Banking-Strategie unterstützen, ohne dass sie die Kundenbeziehung verlieren. Das Gegenteil passiert, sie können diese stärken und sogar monetarisieren. Was will man mehr?
Der Fokusbereich von Descartes, Vorsorge- und Freizügigkeitslösungen, ist bei den wenigsten Banken ein Kernthema und für deren Kunden kaum im Zentrum der Bankbeziehung. Was bedeutet das für Ihr Geschäftsmodell und mögliche Kooperationen mit Banken?
Wenn eine Bank ihre Kunden über die verschiedenen Lebenssituationen begleiten möchte, dann gehört Vorsorge zum Kern, basta. Ich weiss nicht, wie beispielsweise ein 35-jähriger in 30 Jahren seinen Lebensstil beibehalten möchte – ganz ohne private Vorsorge. Und sind wir mal ehrlich, bei der Säule 3a und der Freizügigkeit differenzieren sich die Anbieter nicht wirklich. Sogar die Werbung sieht ungefähr gleich aus.
Vorsorge wird zur Commodity. Deswegen muss ein Institut dort skalieren, wo es skalieren kann – nämlich bei der Technologie – und seine Stärken in die gesamtheitliche Beratung stecken. Denn nur dort kann es den Pokal gewinnen. Die Umsetzung MUSS technologiegetrieben sein, ob digital-only oder in einem hybriden Modell spielt dabei keine Rolle. Hier kann Descartes Banken, Versicherungen, Fintechs und Fremdanbieter unterstützen. Wir können pfannenfertig alles liefern: Die Technologie, die Stiftung, die Abwicklung bis hin zum Sourcing von Umsetzungslösungen. Die ganze Customer Journey, die startet beim Onboarding, geht über die Verwaltung bis hin zum Offboarding – alles End-to-End und ohne Papier. So geht Digitalisierung.
Wo setzt Descartes auf Eigenentwicklung, wo kooperieren Sie mit anderen Unternehmen und leben selbst die Idee des Open Bankings?
Der Kern von Descartes ist der technologische Unterbau, wir nennen es «Descartes Inside». Das ist der Motor und den haben wir entwickelt. So sind wir auch super schnell und können Kundenbedürfnisse rasch implementieren. Was nicht Core ist, das holen wir von extern und wählen dabei die Besten aus, die unserer Philosophie entsprechen – dazu gehört auch ein unternehmerisches und nachhaltiges Wirken. In unserem B2C-Geschäft setzen wir dort auf Open-Banking-Lösungen von Dritten, wo wir ein Kundenbedürfnis befriedigen können. «Why not» statt «Ja aber», so lautet unsere Devise.
Wo werden Ihre Lösungen gehostet und welche Modelle bieten Sie Finanzinstituten an?
Wir setzen auf Swissness, das ist uns wichtig und letztlich auch unseren Kunden, denn es geht um ihre persönlichen Daten. Wir sehen es als Pflicht, diese bestmöglich zu schützen und das tun wir mit der Wahl von Schweizer Anbietern. Unsere B2B-Kunden können jedoch entscheiden, was sie bevorzugen. Dank moderner API-Architektur ist fast alles möglich, Plug and Play.
Oft verstehen grosse Finanzinstitute die Digitalisierung primär als Effizienzsteigerung, Automatisierung oder Kostensenkung im Rahmen bestehender Lösungen und Infrastrukturen. Dabei geht das Potential, welches dem Transformations-Charakter der neuen Technologien zugrunde liegt, verloren. Wie kann das geändert werden, welches sind die wichtigsten Transformations-Chancen, die sich dem Schweizer Finanzplatz aktuell bieten?
In der Tat steht Digitalisierung bei vielen Instituten nur für Effizienzsteigerung und Kostensenkungen. Das ist gefährlich, denn die meisten Banken befinden sich im Save-Money-Geschäftsmodell. Diese werden langfristig nicht überleben, so wie über die Hälfte der grössten US-Unternehmen in der Liste «Fortune 500» in den letzten 20 Jahren nicht überlebt haben.
Es geht nämlich um die digitale Transformation: Banken müssen auf ein Make-Money-Geschäftsmodell umschalten. Das bedeutet personalisiert, individuell und datenbasiert agieren, sowie dass sie ihre Aktivitäten in einer Open-Finance-Welt bündeln und so auch neue Geschäftsmodelle entwickeln. Der Schlüssel dazu ist Technologie. Eine Bank muss Tech nicht nur verstehen, sie muss in Tech denken und erkennen, dass Technologie das Hilfsmittel ist, um Kundenbedürfnisse effizienter und besser zu befriedigen. Im Umkehrschluss heisst das: Man muss investieren und dabei die Frage stellen: Make, buy or cooperate. Meist ist buy und cooperate günstiger, effizienter, risikoärmer und ein Institut ist viel schneller am Markt.
Während die Kleinheit eines Unternehmens bei der Agilität Vorteile hat, fehlen dafür bei den Investitionsmöglichkeiten oft die Gestaltungsräume. Wie finanziert Descartes die Entwicklung seiner Plattform, welche nächsten Projekte stehen an?
Geringere Investitionsmöglichkeiten muss gar nicht unbedingt ein Nachteil sein. Ab und an frage ich mich schon, wie Banken und Versicherungen in IT-Projekten teilweise Millionen in den Sand setzen. Wir wollen uns das nicht leisten. Wir gehen mit den Ressourcen haushälterisch um, fokussieren uns auf das, was wir können und letztlich – und das ist bei vielen Instituten verloren gegangen – lassen wir Kreativität zu.
«Banken müssen auf ein Make-Money-Geschäftsmodell umschalten. Das bedeutet personalisiert, individuell und datenbasiert agieren, sowie dass sie ihre Aktivitäten in einer Open-Finance-Welt bündeln und so auch neue Geschäftsmodelle entwickeln.»
Unsere Pläne gehen dahin, dass wir unser B2B-Geschäft, insbesondere Vorsorge-as-a-Service, weiter ausbauen. Da spüren wir eine hohe Nachfrage. Zudem werden wir unsere B2C-Plattformen «Finance» (freies Vermögen) und «Vorsorge» zusammenlegen – es kommt also künftig alles aus einer Hand, verbunden mit der hybriden Descartes Experience. Die neue Plattform ist 100 Prozent aus der Sicht des Kunden entwickelt und End-to-End. Also keine Scheindigitalisierung, sprich es gibt keine Medienbrüche oder viel Papier.
Descartes setzt auf Nachhaltigkeit und ESG-Kriterien bei seinen Lösungen. Dem ESG-Markt fehlt es zur Zeit jedoch an Verbindlichkeit, Qualitätskriterien und Transparenz. Wie stellen Sie sicher, dass bei Descartes kein Greenwashing-Risiko besteht?
Schauen Sie, jetzt rennen alle Institute dem Thema Nachhaltigkeit nach. Vor ein paar Jahren war es das Thema «Absolut Return» und in einigen Jahren wird es ein neues Thema sein. Und ja, ich gebe Ihnen Recht, es findet auch viel Greenwashing statt. Man muss immer die Rückseite der Medaille genauer betrachten.
Wir waren der erste digitale Vermögensverwalter, der sich nachhaltiges Anlegen auf die Fahne schrieb und es vor allem auch lebt. Nachhaltige Anlagelösungen kann jeder verkaufen, das ist keine Differenzierung. Unsere Differenzierung: Das ganze Unternehmen wirkt nachhaltig und das verlangen wir auch von unseren Partnern. Dabei geht es nicht allein nur um das Klima – welches natürlich absolut zentral ist – doch auch um Diversität und darum, ein fairer Arbeitgeber zu sein (das wäre in der ESG-Welt das «S»). Zudem – und das ist ganz wichtig – um Governance, also eine ehrliche, seriöse, langfristig-orientierte Geschäftsführung, die eben nachhaltig denkt. Ob letzteres alle diese Nachhaltigkeitsanbieter erfüllen, stelle ich in Frage. Wir haben mit Anna Stünzi im Verwaltungsrat eine schweizweit etablierte Spezialistin, die zusammen mit der Geschäftsleitung die Nachhaltigkeitsstrategie definiert und umsetzt.
Welche Technologien haben aus Ihrer Sicht das Potential, die Finanzindustrie in den nächsten Jahren grundlegend zu verändern und wo sehen Sie dafür einen Einsatz bei Descartes?
Die Gewinner werden nicht Technologie sein, sondern Firmen, die verstehen, wie Technologien eingesetzt werden, um künftige Kundenbedürfnisse zu befriedigen. Wer eine Vorstellungskraft über künftige Technologie aufbauen und diese gewinnbringend einsetzen kann, spielt in der ersten Liga.
Technologisch werden wir im Bereich künstlicher Intelligenz und intelligenter Algorithmen viele Fortschritte sehen. Wer heute in Datensilos herumtanzt – bei vielen Banken leider der Fall – wird es schwierig haben, künftige Kundenbedürfnisse zu befriedigen. Zudem sehe im ganzen Blockchain-Bereich viel Potenzial: Wir stehen noch ganz am Anfang, sozusagen im Jahr 8 oder 9 des Internets. Die Entwicklungen rund um das Web3 sind im vollen Gange und wir werden in wenigen Jahren auf dem Web3 ganz normal surfen.
«Wer heute in Datensilos herumtanzt – bei vielen Banken leider der Fall – wird es schwierig haben, künftige Kundenbedürfnisse zu befriedigen.»
Wer diese Themen ignoriert, wird früher oder später dem Tech-Zug nachrennen müssen. Ich sitze lieber schon bei der Abfahrt im Zug, das ist viel gemütlicher. Deswegen haben wir bei Descartes unsere Fühler ausgestreckt und verfolgen diese Entwicklungen hautnah.
Zum Schluss des Interviews haben Sie zwei Wünsche frei, wie sehen die aus?
Ich wünsche mir in der Finanzbranche mehr Demut und zugleich echte Leadership. Führungskräfte, welche die Schweiz im Banking dahin bringen, wo sie hingehört: An die Spitze. Wir spielen nur im Mittelfeld und wir verlieren weiter, wenn wir nicht auf die Tube drücken. Es ist doch wie im Fussball: Jeder Trainer und jeder Spieler will im Finale der Champions League spielen und nicht irgendwo unten in der Tabelle herumdümpeln.
Mein wichtigster Wunsch ist jedoch eine bessere Welt ohne Krieg, Weltbürger, die mit den Ressourcen verantwortlich umgehen und eine Entwicklung, die allen Menschen – auch den 1,8 Milliarden «unbanked» – modernes und faires Banking ermöglicht.