Anfang 2023 rechneten wir mit dem baldigen Beginn einer Rezession, der Beendigung der Zinserhöhungen durch die amerikanische Notenbank und dem Überschreiten eines Höchststands des US-Dollars. Dazu ist es jedoch nicht gekommen, und der US-Aktienmarkt hat sich wieder auf Rekordniveau erholt. Uns war damals bewusst, dass die Aussichten unsicher waren. Deshalb haben wir 10 Faktoren zusammengestellt, die unsere Einschätzung beeinflussen könnten. Nachdem die erste Hälfte des Jahres hinter uns liegt, haben sich bereits erstaunliche sieben von zehn materialisiert.
Im monatlichen Ausblick zu Beginn des Jahres (Ein Schwarm schwarzer Schwäne: Überraschungen, welche die Aussichten für 2023 grundlegend ändern könnten – Januar 2023) wurden einige positive und negative Szenarien sowie Tail-Risiken untersucht. Diese waren zwar nicht Teil unseres Basisszenarios, könnten sich aber dennoch auf die Märkte und die Asset Allocation auswirken. Risiken können für kurze Zeit die Stimmung an den Finanzmärkten dominieren, ohne dass sich das fundamentale Szenario ändert. Sobald sie in den Bewertungen berücksichtigt sind, eröffnen sie Anlagechancen.
Wir führen darüber Buch. Sobald diese Risiken eingetreten sind, wird dies mit einem Punkt vermerkt. Wenn sie nicht eingetreten sind, erfolgt kein Scoring. Ein halber Punkt wird vergeben, wenn eine Entwicklung teilweise eingetreten ist. Die möglichen Szenarien, die wir zu Beginn des Jahres 2023 identifiziert hatten, haben sich bisher wie folgt entwickelt:
Goldlöckchens Rache
Den Anfang macht „Goldlöckchens Rache“ – die Konjunktur bricht weder ein noch überhitzt sie. Die Wirtschaft hat sich in der Tat als widerstandsfähig erwiesen, trotz der Straffung der Geldpolitik durch die US-Notenbank. US-Aktien und Hochzinsanleihen haben sich gut entwickelt. Der KI-bezogene „disinflationäre“ Goldrausch hat für eine stark konzentrierte Marktentwicklung gesorgt. Dabei haben die besten 2-3 % im S&P 500 Index nahezu die gesamte Wertentwicklung in diesem Jahr erbracht.
„Wir sind nach wie vor vorsichtig und positionieren uns jetzt gegen den Konsens, indem wir weiterhin Aktien- und Hochzinspositionen abbauen“, sagt Colin Graham, Senior Portfolio Manager im Sustainable Multi-Asset Solutions Team von Robeco.
Paniksituationen – die Fed könnte ihr Inflationsziel revidieren
Wir stellten die These auf, dass die US-Notenbank, wenn sie der niedrigen langfristigen Zinssätze überdrüssig wird, einen Bruch mit dem seit der Finanzkrise bestehenden strukturellen Regime ankündigen und ihr Inflationsziel von 2 % aufgeben könnte. Die US-Notenbank und andere Zentralbanken haben ihre restriktive Haltung beibehalten. Der verzögerte Rückgang der Inflation auf den Zielwert von 2 % wurde von den sensiblen Anleiheninvestoren hingenommen, ebenso wie die grosszügige Fiskalpolitik.
„Der Zinssenkungszyklus wird für die Anleger ein Diskussionsthema im Hinblick auf das Jahr 2024 sein, es sei denn, es kommt zu finanziellen/wirtschaftlichen Turbulenzen“, sagt Graham.
Deflations-Desaster
Wir haben festgestellt, dass Deflation bis Ende 2023 eine höhere Punktzahl als Inflation haben könnte, wie aus laufend veröffentlichten Daten hervorgeht. Bislang haben sich diese Befürchtungen als unbegründet erwiesen. So haben sich die Arbeitsmärkte und die Gesamtnachfrage als widerstandsfähig erwiesen. Graham schliesst jedoch nicht aus, dass Deflation in ferner Zukunft ein Thema sein könnte.
„Die Inflation wird hartnäckiger sein, als die Modelle vieler Volkswirte vorhersagen. Daher werden die Zinsen länger höher sein müssen, sodass eine Unterschreitung des Inflationsziels wahrscheinlicher wird“, sagt er.
Greenwashing und Impact Washing
Es war offensichtlich, dass Behauptungen von Unternehmen in punkto Nachhaltigkeit von Aufsichtsbehörden, Medien und Anlegern unter die Lupe genommen werden. Wir fragten uns aber, ob dies die betroffenen Institutionen auch zum Handeln veranlassen würde. Seit Jahresbeginn haben wir beobachtet, dass sich die Anforderungen der US-Kunden in Bezug auf Nachhaltigkeitsfragen differenziert haben, dass Fonds von Artikel 9 auf Artikel 8 der SFDR herabgestuft wurden und dass Firmen die Net Zero Asset Management Initiative verlassen oder auf Nachhaltigkeitsbehauptungen verzichten und aus den UN PRI austreten.
„Das regulatorische Umfeld entwickelt sich weiter, wobei in einigen Bereichen etwas mehr Klarheit gewonnen wurde. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, den Nachhaltigkeitsrahmen anzuwenden, und unser SDG-Rahmenwerk ist für Kunden und Wissenschaftler frei zugänglich“, sagt Graham.
Risiken und Chancen
Im Jahr 2022 lagen die Renditen von Fonds mit definiertem Risikoprofil (vorsichtig, ausgewogen, offensiv) trotz unterschiedlicher Aktien- und Anleihenallokationen innerhalb einer Bandbreite von 50 Basispunkten. Im Jahr 2023 hat sich die Realität durchgesetzt, und die Korrelationen sind wieder gesunken.
„Die 60/40-Allokation ist quicklebendig, und wir gehen weiterhin davon aus, dass die Korrelationen niedriger sein werden als im Jahr 2022“, so Graham.
Engpässe lösen sich auf
Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Jahr 2022 sind die Rohstoffpreise in die Höhe geschossen. Dies verschärfte die kostenbasierte Inflation, die sich infolge von Engpässen in der Lieferkette nach dem Ende der Corona-Pandemie ergeben hatte. Allgemein wurde erwartet, dass diese Faktoren fortbestehen würden. Doch die Rohstoffpreise sind 2023 gesunken, und die Probleme in der Lieferkette haben sich deutlich entspannt. Dies ist eine gute Nachricht im Hinblick auf die Inflationsbekämpfung, unterstreicht aber auch die weltweite Abkühlung der Konjunktur.
„Die Verbraucher in China hatten nicht den Vorteil der grosszügigen Finanzhilfen wie in den USA und Europa und brauchen daher länger, um sich zu erholen. Man war enttäuscht über die schwache Dynamik eines wichtigen globalen Konjunkturmotors wie China. Doch das ist jetzt in den chinesischen Aktienkursen berücksichtigt“, sagt Graham.
Anti-Soziale Medien
Wir hatten erwartet, dass es zu einer gewissen Regulierung grosser Technologie- und Social-Media-Plattformen kommen könnte, da Datenschutzfragen in den Vordergrund rücken. Jedoch ist in dieser Hinsicht noch nicht viel geschehen, obwohl das Thema in den USA und Europa im Fokus des Gesetzgebers steht. Dies hat sich 2023 nicht auf die Finanzmärkte ausgewirkt. So führt Big Tech nach wie vor die Entwicklung der Börsen an und schwimmt dabei auf der KI-Welle mit.
„Wir sind unverändert der Meinung, dass die Aktien, die den letzten Bullenmarkt angeführt haben, die langfristige Erholung nicht dominieren werden. Es handelt sich daher unserer Meinung nach nicht um einen neuen Bullenmarkt. Wir gehen auch davon aus, dass Big Tech sich in den kommenden Jahren ganz anders darstellen wird“, sagt Graham.
Schockartige Regierungswechsel
2023 ist das erste Jahr in diesem Jahrhundert ohne Parlamentswahlen in einem der G-7-Staaten. Vor diesem Hintergrund fragten wir uns, ob politische Turbulenzen mit Auswirkungen auf die Finanzmärkte, wie sie Grossbritannien 2022 mit drei Premierministern und einem kurzen Einbruch des Gilt-Markts erlebte, auch anderswo auftreten könnten. In Wirklichkeit sind die etablierten politischen Kräfte bisher im Amt geblieben.
„Die Volatilität im Jahr 2023 ist weniger auf die politische Ebene als vielmehr auf das Liquiditätsungleichgewicht zurückzuführen, von dem die mittelgrossen US-Banken betroffen sind. Die Kursschwankungen bei Anleihen sind zwar noch hoch und wir können diese Tail-Risiken nicht vorhersehen. Doch welche Entwicklung auch immer eintreten mag, wird sie Chancen eröffnen“, sagt Graham.
Einsturz des Kartenhauses
Die allmähliche Entdeckung von Investments, die nur getätigt wurden, weil Liquidität „kostenlos“ war, wurde zu Jahresbeginn als mögliche Quelle von Problemen erkannt. Bisher sind zwar einige Immobilienstrukturen kollabiert, doch war davon nichts bedeutend genug, um auf die öffentlichen Märkte überzugreifen.
„Dies stellt immer noch eine klare und gegenwärtige Gefahr dar. Daher sollte man als Käufer auf der Hut sein, denn privat gehandelte Vermögenswerte waren grosse Profiteure des billigen Geldes.“
Net-Zero-Aufschwung
Die Indizien für den Klimawandel werden immer deutlicher, und die Klimakonferenz COP27 hat gezeigt, dass der politische Wille der entscheidende Faktor ist. Auf lange Sicht bedeutet die Sicherstellung der Energieversorgung stärkere Investitionen in umweltfreundliche Technologien und Klimalösungen, um die Lücke zwischen Vorhaben und Umsetzung zu schliessen.
„Wir beobachten, dass sich die Regierungen weiterhin verpflichten, die Umstellung auf umweltfreundliche Energien zu finanzieren, aber eher notgedrungen und aus Angst, nicht dabei zu sein – nicht weil die Politiker eine Vision hätten. Wir glauben auch, dass diese zusätzlichen Ausgaben den kurzfristigen Inflationsdruck verstärken werden.“
Fazit: Flexibel bleiben
Wir können Ereignisse, die sich auf die Marktrenditen auswirken, nicht perfekt vorhersehen. Doch ein Ergebnis von 7 von 10 Punkten ist angesichts des Tail-Risk-Charakters dieser Ereignisse und der damit verbundenen Widersprüche hoch. Wenn wir Marktpreise oder Volatilität beobachten, die Tail-Risiken beinhalten, sehen wir dies als Chance zur Erzielung von Erträgen für unsere Kunden. Bei Robeco ist das Sustainable Multi-Asset Solutions Team auf eine turbulente zweite Hälfte des Jahres 2023 vorbereitet. Wir verstärken die Widerstandsfähigkeit unserer Portfolios weiter, indem wir die Engagements in Aktien und Hochzinsanleihen reduzieren und vermehrt antizyklische Positionen eingehen. (Robeco/mc/ps)