Robert Jakobs Wirtschaftslupe: Wachstum quo vadis?
Von Robert Jakob
Diesmal die schlechte Nachricht gleich zu Beginn: Die Schweiz hat kaum Wirtschaftswachstum. Damit meine ich nicht den Ist-Zustand – dieses vorübergehende Übel, auf den alle Wirtschaftsjournalisten von morgens früh bis abends spät glauben blicken zu müssen. Ich rede von der statistisch erhärteten Vergangenheit. Schauen wir fast drei Jahrzehnte zurück: Seit 1991 summiert sich nach Daten des Bundesamtes für Statistik das offizielle Wirtschaftswachstum, gemessen am BIP pro Einwohner zu laufenden Preisen, auf 44 Prozent (s. Abb.). Die Zahl berücksichtigt aber noch nicht die Inflation.
26,5 Prozent kumuliert betrug die Geldentwertung im selben Zeitraum, gemessen am VPI, dem Verbraucherpreisindex. Die Differenz von 17,5 Prozent entspricht einem jährlichen Wirtschaftswachstum von 6 Promille, Promille – nicht Prozent. Für die Schweizer Wirtschaft ist das jedoch kein Problem. Denn im selben Zeitraum hat sich die Bevölkerung kräftig vermehrt. 3,7 Millionen Haushalte wollen erst einmal versorgt sein. Von 1991 bis 2017 wuchs die Wohnbevölkerung um 1,7 Millionen von 6,7 auf über 8,4 Millionen. Das stärkt der Wirtschaft den Rücken, auch wenn der Kuchen auf mehr Köpfe zu verteilen ist.
Das Schweizer BIP pro Kopf zu laufenden CHF-Preisen (Datenquelle: BFS) ist seit Längerem in Stagnation begriffen.
Auch China wird gerade „geerdet“
Wenn aber, trotz Ein-Kind-Politik und damit mittlerweile nur mit rund 0,5% jährlich wachsender Bevölkerung, die chinesische Wirtschaft über Wachstumsraten von 6,9% (Basis 2017) jubeln kann, fragt sich, wie es zu einem derart riesigen Unterschied kommt? Zum einen dürften die chinesischen Wirtschaftszahlen um etwa zwei Prozent geschönt sein. Zum anderen ist China immer noch in vielen Bereichen ein Schwellenland. Einer agrarischen Landbevölkerung stehen die Produktionszentren in den Grossstädten gegenüber. In Letzteren wird der jahrhundertelange Rückstand an den Werkbänken nachgeholt und mittlerweile die USA als Industrienation überholt. Das 21. Jahrhundert wird das der Chinesen. Auch Trump wird das nicht verhindern. Es steht bereits 18 zu 15. China steuert 18 Prozent zum weltweiten BIP bei, die USA nur 15 Prozent. Aber natürlich haben die USA noch immer ein grösseres Bruttoinlandsprodukt pro Kopf.
In dem Masse, wie China eine reife Industriemacht wird, werden auch die Wachstumsraten weiter sinken. Denn: Reife Volkswirtschaften haben naturgemäss tiefere Wachstumsraten. Die Versorgung liegt in ihnen bereits auf einem so hohen Niveau, dass selbst vier Prozent reales Wachstum unerreichbar werden. Das ist aber noch lange kein Beinbruch. Solange der jährliche Zugewinn immer gleich hoch ist, ergibt sich bereits mathematisch eine Abflachung der Wachstumsrate, denn letztere ist von ihrem Charakter her ja exponentiell. Der Exponent muss also stets kleiner werden, je besser wir uns entwickeln. Das ist in der Schweiz als dem vielleicht am weitesten entwickelten Land der Welt eindeutig der Fall. In der Eidgenossenschaft gibt es fast regelmässig Jahr für Jahr grosses Wachstum. Allerdings in absoluten Zahlen und nur relativ wenig im Vergleich zur Vorjahresbasis, weil das Wohlstandsniveau bereits so extrem hoch ist.
Für unser Nachbarland Deutschland haben Kay Bourcarde und Karsten Herzmann den Weg der Bundesrepublik in das verlangsamte Wachstum nachgezeichnet (Buchempfehlung: wochenschau-verlag.de), von den Traumwachstumsraten von acht und mehr Prozent der 50er und 60er Jahre, über die 3 Prozent der 70er bis zu den 1,5 Prozent des neuen Jahrtausends. Sie kommen in tiefschürfender Analyse zu dem Schluss, dass Deutschland vom exponentiellen in das lineare Wachstum übergegangen ist. An und für sich kein Beinbruch, würde nicht auch noch dieses Wachstum seit zwei Jahrzehnten bei den meisten Menschen in Deutschland nicht ankommen. Die Reallöhne stagnierten fast vollständig. Besser stellt sich nur, wer produktive Vermögenswerte hat.