St. Gallen – Die Aktienmärkte haben seit ihren Tiefstständen Mitte März ein wahres Rallye hingelegt. Der Swiss Performance Index stieg um 20%, der S&P 500 gar um 28%. Rund die Hälfte des Corona-Kurseinbruchs haben die Börsen wieder aufgeholt. Die Aktienkurse befinden sich wieder auf dem Niveau vom letzten Sommer. Damals wurde zwar von einer Abschwächung der Konjunktur gesprochen, eine globale Rezession aber als unwahrscheinlich eingestuft. Momentan befindet sich die Weltwirtschaft jedoch in der grössten Rezession seit den 30er-Jahren; mit ungewissem Ausgang.
Die grossen staatlichen Hilfspakete, die überall geschnürt wurden und in regelmässigen Abständen weiter erhöht werden, haben die Stimmung der Anleger verbessert. Die Panik von Anfang März ist der Hoffnung auf eine baldige Erholung der Konjunktur gewichen. Die Eingriffe der Zentralbanken in die Finanzmärkte mit Hunderten von Milliarden, allen voran durch die Fed, haben die Angst vor Zahlungsausfällen gemildert. Es scheint, als kaufen die Zentralbanken alles, was potenziell notleidend wird. Die Kreditrisikoprämien bei den Obligationen haben sich daher ähnlich wie die Aktien um rund die Hälfte erholt. Unsicherheitsindikatoren wie die Volatilitätsindizes zeigen noch eine erhöhte Unsicherheit an, aber nicht mehr.
Knifflige Prognosen
Kann an den Finanzmärkten die Corona-Krise wirklich schon vorbei sein? Eine allzu frühe Entwarnung ist trügerisch. Wie stark die Rezession ausfällt und vor allem wie schnell sich die Konjunktur wieder erholen wird, ist heute nicht abschätzbar. In vielen Ländern wird eine langsame Wiedereröffnung der Wirtschaft vollzogen oder in Aussicht gestellt. Ob die Konsumenten aber gewillt und in der Lage sind, die neuen Möglichkeiten auch zu nutzen, ist eine andere Frage. Wann die Unternehmen wieder über Investitionen nachdenken, steht in den Sternen. Momentan haben sie genug damit zu tun, ihre Lieferketten stabil zu halten. Wie weit wir von einer Normalisierung entfernt sind, zeigt ein Blick auf den leeren Luftraum über Europa und dem Nordatlantik in Apps wie «Flightradar 24», oder die Geschwindigkeit, mit der sich die Erdöllager füllen, weil auch eine stark gedrosselte Ölförderung keine Abnehmer findet.
Die Finanzmärkte gehen von einem optimistischen Szenario aus. Mit Hilfe der verschiedenen Hilfsprogramme wird es gelingen, die Substanz der Wirtschaft mehrheitlich über die Corona-Krise zu retten. In der Folge erholt sich die Wirtschaft im zweiten Halbjahr und vor allem im nächsten Jahr wieder. Dieses Szenario ist nicht unrealistisch, aber es wird auf dem Weg dahin zu Rückschlägen kommen. Zudem hat die zaghafte Erholung der Wirtschaft nach der Finanzkrise 2008 gezeigt, dass nach sehr grossen Wirtschaftseinbrüchen zuerst die Trümmer beseitigt werden müssen. Die dafür notwendigen Anpassungen in der Wirtschaft dauern länger als bei normalen wirtschaftszyklischen Rezessionen.
Gewinne mitnehmen
Das Enttäuschungspotenzial ist nach dem starken Anstieg der Aktienkurse gross. Die in den nächsten Wochen veröffentlichten Konjunkturdaten und Unternehmensmeldungen werden offenbaren, wie stark die Verwerfungen in der Wirtschaft effektiv sind. Verzögerungen im Erholungsprozess werden neue Zweifel schüren. All das wird die Unsicherheit der Anleger zwischenzeitlich wieder erhöhen und die Aktienmärkte belasten. Wie weit die Kurse jeweils fallen werden, ist schwer zu sagen. Es wäre daher falsch, alles zu verkaufen und sich aus dem Aktienmarkt zu verabschieden. Vielmehr hat die bisherige Börsenentwicklung während der Corona-Krise gezeigt, wie wichtig und richtig es ist, an seiner Anlagestrategie festzuhalten. Das schliesst aber nicht aus, dass man im Rahmen seiner Bandbreiten nach starken Kursverlusten etwas Aktien dazukauft und nach starken Kursanstiegen etwas Aktien verkauft und die aufgelaufenen Gewinne realisiert. Aktuell ist die Zeit für Letzteres gekommen. (SGKB/mc/ps)