St. Gallen – Aus den Geschichtsbüchern kennen wir die Bilder aus Deutschland von 1923. Leute, die stapelweise wertlose Banknoten verbrennen, um wenigstens warm zu haben. In der Schweiz erinnert man sich an die erste Hälfte der 1970er-Jahre, als die Inflationsrate auf ihrem Höhepunkt 12% betrug. Eine spürbare Inflation von mehr als 5% gab es in der Schweiz letztmals 1992. Die jüngeren unter uns kennen Inflation nur vom Hörensagen.
Den Zentralbanken ist es seither gelungen, zumindest in den Industrieländern aber auch in vielen Schwellenländern, das Gespenst der Inflation unter Kontrolle zu halten. Mittlerweile haben viele die Seite gewechselt. Mit aller Gewalt versuchen sie, die Inflationsraten anzukurbeln. Immer mehr auch namhafte Ökonomen vertreten die Ansicht, man sollte das heute gängige Inflationsziel von 2% nach oben anpassen. Einst als Geissel verdammt, sehen sie heute in der Inflation eine willkommene Erleichterung.
Die Bank of Japan versucht seit Jahren mit viel Geld die Inflationsrate auf 2% anzuheben. Bisher erfolglos. Nun soll es ein Zinsziel von 0% bei den 10-jährigen japanischen Staatsanleihen richten. Die EZB befindet sich noch auf der Stufe der Geldschwemme. Ihr Erfolg ist bisher aber nicht grösser als in Japan. Die Kerninflation ohne den direkten Einfluss der gefallenen Energiepreise verharrt seit mehr als zwei Jahren zwischen 0.6% und 1.0% und macht keine Anstalten, sich in Richtung des Ziels von 2% zu bewegen.
Die SNB sieht sich durch den Franken mit einer besonderen Herausforderung konfrontiert. Eine Aufwertung des Frankens würde einen in der Schweiz an sich schon tiefen Inflationsdruck in den deflationären Bereich unter Null drücken. In ihrer aktuellen Inflationsprognose geht die SNB davon aus, dass die Inflationsrate auch bei anhaltenden Negativzinsen erst 2019 wieder auf 1% steigen wird.
„Death of Inflation“?
Es gibt verschiedene Theorien, warum die Inflationsraten auf Dauer bei Null bleiben sollten. Die abnehmende Produktivität in der Wirtschaft aufgrund der Alterung der Bevölkerung.
Die steigende Sparquote aus dem gleichen demographischen Grund oder der immer stärker werdende globale Wettbewerb durch die allumfassende Digitalisierung. Haben diese Theorien Recht, dann stehen die Zentralbanken auf der Suche nach 2% Inflation auf verlorenem Posten und wir müssen uns daran gewöhnen, dass Null- oder Negativzinsen unseren weiteren Lebensweg begleiten werden.
Wohl eher nicht!
Ob die Inflation wirklich tot ist, wird die Geschichte weisen. Ich glaube nicht daran. In den USA steigt der Inflationsdruck in den letzten Monaten an, nicht dramatisch aber doch stetig. Viel wird von der weiteren Lohnentwicklung abhängen. Sollte der Druck auf die Löhne aufgrund des enger werdenden Arbeitsmarktes ansteigen, könnten die heute sehr tiefen Inflationserwartungen der Finanzmärkte und der Konsumenten kippen. Dann müssten die Zentralbanken plötzlich wieder gegen das Gespenst der Inflation ankämpfen und die Zinsen deutlich erhöhen. (SGKB/mc/pg)
Dr. Thomas Stucki ist CIO der St.Galler Kantonalbank. Herr Stucki hat einen Abschluss mit Doktorat in Volkswirtschaft von der Universität Bern und ist CFA Charterholder. Er führt bei der St.Galler Kantonalbank das Investment Center mit rund 30 Mitarbeitenden. Er ist verantwortlich für die Verwaltung von Kunden- mandaten und Anlagefonds im Umfang von CHF 4,4 Milliarden. Zuvor war er als Leiter Asset Management der Schweizerischen Nationalbank verantwortlich für die Verwaltung der Devisenreserven.