Frankfurt – Das Wirtschaftswachstum in China ist im zweiten Quartal 2019 auf 6,2 Prozent gefallen, den niedrigsten Wert seit beinahe dreissig Jahren. Die Regierung versucht, mit zahlreichen stimulierenden Massnahmen einer weiteren Abschwächung zuvorzukommen – insbesondere angesichts des Handelskonflikts mit den USA. Aber auch in diesem schwierigen Umfeld bieten sich am chinesischen Aktienmarkt einige interessante Anlagechancen.
Nach einem recht guten Jahresstart mit einem Zuwachs von 6,4 Prozent im ersten Quartal 2019 wuchs die chinesische Wirtschaft im zweiten Quartal nur noch um 6,2 Prozent. Die grössten Einbussen verzeichneten das Verarbeitende Gewerbe sowie die Baubranche, während sich der Dienstleistungssektor recht gut behaupten konnte. Die Flaute bei den industriell gefertigten Gütern zeigt, dass vor allem der chinesische Aussenhandel unter Druck gekommen ist. Dabei sind aber nicht nur die Exporte in die USA als direkte Folge des Handelskonflikts zurückgegangen. Auch in den Rest der Welt (exklusive der USA) hat China weniger exportiert, jedoch fiel dort der Rückgang niedriger aus als im Handel mit den Vereinigten Staaten. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass sowohl der Zollstreit mit den USA als auch die weltweite Konjunkturabschwächung ihre Spuren in der chinesischen Handelsbilanz hinterlassen haben. Gleichzeitig hat China auch etwas weniger Waren aus dem Ausland importiert.
Peking richtet Fokus auf Stabilisierung der Wirtschaft
Das im Land grassierende Schweinefieber wirkte sich zuletzt erheblich auf die Lebensmittelinflation aus. Zum einen hatte der starke Anstieg des Preises für Schweinefleisch von rund 21 Prozent im Jahresvergleich somit einen deutlichen Effekt auf die Gesamtinflation, die im Juni bei 2,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr lag. Positiv wirkte sich zum anderen der leichte Rückgang der Energiepreise aus. Die Kerninflation in China blieb hingegen per Saldo im Jahresvergleich stabil. Diese Zahlen werden die Zentralbank sicherlich nicht davon abhalten, geldpolitische Lockerungsmassnahmen einzuführen, falls dies nötig sein wird. Angesichts der anhaltenden Wachstumsschwäche verwundert nicht, dass die chinesische Führung ihren Fokus nun wieder verstärkt auf die Stabilisierung der Wirtschaft und weniger auf die Begrenzung der Staatsverschuldung legt. Gegenwärtig sind die staatlichen Geldschleusen aber noch nicht vollständig geöffnet. Letztes Jahr hatte die Zentralbank bereits die Liquiditätsversorgung der Märkte gestärkt. In nächster Zeit dürften wirtschaftliche Stimulierungsmassnahmen in grossem Stil anstehen, die sowohl die Geldpolitik als auch die Fiskalseite betreffen.
Trotz des jüngsten Rückgangs sind die Orderbücher der Bauindustrie wieder recht gut gefüllt, da bereits zahlreiche öffentliche Aufträge für den Ausbau und die Modernisierung beispielsweise von Bahn und Brücken vergeben wurden. So haben vor allem die chinesischen Lokalregierungen mittlerweile Infrastrukturmassnahmen eingeleitet, um die heimische Wirtschaft zu stützen. Entsprechend stieg zuletzt auch das Emissionsvolumen dieser Lokalregierungs-Anleihen im Rahmen des „Total Social Financing“ an. Käufer dieser Anleihen sind vor allem die hiesigen Banken und Versicherungen. Eine weitere relevante Einnahmequelle der Lokalregierungen stellen Landverkäufe an Immobilienentwickler dar. Seitdem in China die Immobilienpreise vor rund zwei Jahren deutlich gestiegen sind, kontrolliert der Staat verstärkt den privaten Immobiliensektor über die Beschränkung von Baugenehmigungen und zahlreichen Restriktionen für private Käufer. Nach unserer Ansicht wird die chinesische Regierung den Immobilienmarkt stets im Auge behalten, da er ein Grundpfeiler für Wirtschaft und Gesellschaft ist. Folglich würde sie auch immer die notwendigen Massnahmen ergreifen, um ihn zu schützen.
Chinesische Wirtschaft ist unübersichtlich, bietet aber Investmentchancen
Insgesamt ist festzustellen, dass die chinesische Wirtschaft ein sehr heterogenes Bild aufweist. In den vergangenen Jahren führte die Regierung noch bewusst wachstumsbremsende Massnahmen durch, um die Schuldenreduktion des Bankensektors und der Staatsunternehmen zu erleichtern. Doch durch den Handelsstreit mit den USA und die weltweite Nachfrageschwäche hat sich die chinesische Konjunktur inzwischen stärker entschleunigt, als zunächst geplant war. Folglich ist die Investitionsbereitschaft der Unternehmen kräftig zurückgegangen, auch bei binnenmarktorientierten Firmen, die gar nicht von den verschärften US-Zöllen betroffen sind. Denn die Gewinnentwicklung der Unternehmen ist über sämtliche Wirtschaftszweige hinweg rückläufig.
Während der Unternehmenssektor aktuell eher zurückhaltend agiert, bleibt der private Konsum eine wichtige Konjunkturstütze für China. Sowohl der Online- als auch der Einzelhandel vor Ort zeigen sich erstaunlich stabil. Dabei ist eindeutig ein Trend zu Premium-Marken feststellbar. Die Chinesen lieben teure Markenartikel, mit denen sie ihren neu erworbenen Wohlstand zeigen und geniessen wollen. Die Einzelhandelszahlen fielen im abgelaufenen Quartal mit einem Anstieg von 9,8 Prozent im Jahresvergleich überraschend robust aus. Doch beruhten die Zuwächse vor allem auf einem Lagerbestandsabbau in der Autoindustrie im Zuge vorgezogener Neukäufe vor der Verschärfung der Emissionsstandards. Der Automarkt ist nach dem Immobiliensegment der zweitwichtigste Wirtschaftszweig in China. So gibt es dort zahlreiche grosse und kleinere lokale Autohersteller. Diese konnten in den letzten Jahren ihre Kapazitäten ausbauen. Doch inzwischen kämpfen auch sie mit sinkender Nachfrage infolge der Konjunkturschwäche. Das Geschäft der chinesischen Batteriehersteller läuft dagegen weiterhin gut und auch Elektroautos sind nach wie vor gefragt.
Die Kapazitäten der Stahlbranche wurden in den vergangenen Jahren auf staatlichen Druck hin deutlich reduziert. Entgegen unseren Erwartungen ist der Sektor im ersten Halbjahr 2019 infolge des Wachstums des Immobilienmarktes wieder um sieben bis acht Prozent gestiegen. Da der chinesischen Bevölkerung nur wenige Möglichkeiten zur Geldanlage zur Verfügung stehen, investieren sie nach wie vor bevorzugt in Immobilien. Doch aufgrund der starken Bautätigkeit fallen die Leerstandraten im Land auch im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hoch aus.
Ein besonderes Charakteristikum der chinesischen Wirtschaft ist die regelmässige Verabschiedung von Fünf-Jahres-Plänen, die jeweils ein besonderes Thema adressieren. Der aktuelle Plan konzentriert sich auf die Themen Künstliche Intelligenz (KI) und Digitalisierung. Doch ist US-Präsident Donald Trump den Chinesen diesmal in die Quere gekommen. Der Ausbau der digitalen Infrastruktur wird durch Investitionshemmnisse behindert, die der US-Handelskonflikt verursacht hat. Insgesamt sind die chinesischen IT-Unternehmen sowohl bei Hard- als auch bei Software noch stark abhängig von US-Zulieferern. Aufgrund der Handelsbeschränkungen der Trump-Administration will das Land nun verstärkt eigenes Know-how insbesondere im Halbleitersegment aufbauen. Doch ist dies ein langwieriger Prozess, der mehrere Jahre in Anspruch nehmen dürfte. Am Ende wird China diesen aber erfolgreich bewältigen. So soll auch das 5G-Netz, die neueste Mobilfunkgeneration, nun zügig und aus eigener Kraft aufgebaut werden. Da Huawei und ZTE bereits heute wichtige Equipmenthersteller für die 5G-Technologie sind, verwundert es nicht, dass die USA besonders scharfe Sanktionen gegen diese beiden Firmen eingeführt haben. Wahrscheinlich schiessen sich die USA langfristig ins eigene Knie, die chinesischen Rivalen zu behindern, da diese nun erst recht ihr eigenes Know-how weiter ausbauen werden.
Aktienauswahl ist Trumpf
Aus Aktionärssicht sind in China vor allem etablierte und hochprofitable Internetkonzerne interessant. Es gibt aber auch viele junge Unternehmen, die ständig neue Anwendungen an den Markt bringen, die auf hohe Akzeptanz bei den Nutzern treffen. Die chinesischen Verbraucher bleiben weiterhin konsumfreudig. Zudem hält der Trend zu steigenden Löhnen an, während die Arbeitslosenrate niedrig bleibt. In diesem Umfeld dürften die heimischen Sportartikelhersteller von ihrer Ausrichtung auf den westlichen Lifestyle profitieren.
Nachdem sich die chinesische Bevölkerung einen gewissen Wohlstand aufbauen konnte, möchte sie ihn auch absichern. Im Versicherungssektor bevorzugen wir die privaten, gut geführten Lebensversicherer gegenüber den staatlichen, ineffizienteren Grossbanken. Telekom-Firmen dürften vom 5G-Netzausbau, in den sie viel Geld investieren, belastet werden. Sie müssen der Bevölkerung – auf staatliche Anweisung – aber günstige Tarife anbieten, was auf die Profitabilität drückt. Und auch die chinesischen Halbleiterhersteller sind zurzeit noch nicht profitabel, da sie sich die neuen Technologien erst einmal aneignen müssen. Sollte die chinesische Regierung neue Massnahmen zur Stimulierung der Wirtschaft beschliessen, könnten hiervon aber auch einige Unternehmen aus der Old Economy profitieren, also Stahlkonzerne oder Baustoffhersteller. Deshalb beobachten wir die weitere Entwicklung in China stets aufmerksam, da sich hier die flexible Reaktion auf neue Marktgegebenheiten für die Anleger auszahlt. (Union Investment/mc/ps)