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Zürich – Die rekordtiefen Zinsen setzen die Versicherer unter Druck. Wie das aktuelle «Versicherungsbarometer 2015» zeigt, hat sich das Geschäftsumfeld für die überwiegende Mehrheit der Unternehmen verschlechtert. Sämtliche der befragten Lebensversicherer und zwei Drittel der Schaden- und Krankenversicherern beurteilen die Entwicklung negativ. Die Unternehmen reagieren mit Kostensenkungen und Anpassungen ihrer Produkte. Sie schliessen nicht aus, einzelne Geschäftsbereiche aufzugeben.
Das Schweizer Versicherungsgeschäft wird anspruchsvoller. Das macht die Studie deutlich, die bereits zum zweiten Mal vom Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen EY in Zusammenarbeit mit der Universität St.Gallen erarbeitet worden ist. Für die Studie sind CEOs und Geschäftsleitungsmitglieder von 15 der grössten Schweizer Versicherungsgesellschaften befragt worden.
Die Ertragslage verschlechtert sich
Zur Verschlechterung des Geschäftsverlaufs trägt primär das Zinsumfeld bei. 80 Prozent nennen die Niedrigzinsen als wichtigsten Einflussfaktor. Zwar hält das niedrige Zinsniveau schon seit längerem an, mit zunehmender Dauer verschlechtert sich aber ihre Ertragslage. Die Einführung von Negativzinsen durch die Schweizerische Nationalbank Anfang Jahr erschwert oder verunmöglicht es den Unternehmen sogar, die gegenüber den Kunden garantierten Zinsen zu erwirtschaften.
«Für die Versicherungen steht derzeit eine Frage im Zentrum: Wie lange hält die Tiefzinsphase an? Ein, zwei Jahre können sich Unternehmen behaupten. Aber dauert es länger, dann stellt dies gerade Lebensversicherer vor ernsthafte Probleme. Es ist nicht auszuschliessen, dass sich einzelne Unternehmen dann aus diesem Geschäft zurückziehen werden», sagt Prof. Dr. Hans-Jürgen Wolter, Partner und Leiter Aktuariat Schweiz bei EY.
Die Unternehmen gehen grössere Risiken ein
Im aktuellen Umfeld sind die Versicherungsunternehmen grösseren Risiken ausgesetzt. Über 90 Prozent der Befragten geben an, dass die wirtschaftliche Lage einen hohen oder sehr hohen Einfluss darauf hat, wie stark ihr Unternehmen Risiken ausgesetzt ist. Die Versicherer nennen ausdrücklich Aktiencrashs und ein gestiegenes Kreditrisiko als reale Risiken, die sich aus dem ökonomischen Umfeld ergeben.
«Die gestiegen Risiken leiten sich in erster Linie von den tiefen Zinsen ab. Um angemessene Anlageerträge zu erwirtschaften, gehen die Versicherer grössere Risiken ein. Sie investieren vermehrt in Aktien, höherverzinslichen Unternehmensanleihen oder Immobilien. Damit wächst aber die Gefahr, stärker von Einbrüchen an den Aktien- oder Immobilienmärkten in Mitleidenschaft gezogen zu werden», sagt Andrew Gallacher, Partner und Leiter Versicherungsberatung bei EY.
Die Aufgabe von Geschäftsfeldern ist denkbar
Das Tiefzinsumfeld zwingt die Versicherer dazu, ihre Portfolios unter die Lupe nehmen. Dabei geht es um die Frage, ob einzelne Geschäftsfelder aufgegeben oder Produkte künftig in Kooperation mit einem Dritten angeboten werden. Tatsächlich erwarten zwei Drittel der Befragten weitere Portfoliobereinigungen.
«Der Anpassungsbedarf in der Branche ist gross. Nicht nur in der Lebensversicherung, sondern auch in der beruflichen Vorsorge und im obligatorischen Krankenpflegeversicherungsbereich stehen Produktkategorien oder Geschäftsfelder zu Disposition», sagt Hans-Jürgen Wolter.
Nachholbedarf bei Digitalisierung und Big Data
Die Schweizer Versicherer schöpfen das Potenzial der neuen Technologien nicht aus: 60 Prozent der Befragten haben keine Massnahmen zur Digitalisierung implementiert, sondern sind erst mit deren Aufbau beschäftigt. Ebenfalls erst am Anfang stehen die Versicherer, was Big Data angeht: Erst ein Fünftel verfügt über die Systeme, um verfügbare Datenmenge auszuwerten und wertvolle Hinweise auf Kundenbedürfnisse und Produktgestaltung zu erhalten.
Das soll sich in Zukunft ändern: Bis in fünf Jahren wollen 87 Prozent der Unternehmen in der Digitalisierung eine fortgeschrittene oder führende Position einnehmen. Damit sollen primär die internen Prozesse, der Vertrieb und der Kundenservice verbessert werden. Bei Big Data sind die Versicherer zurückhaltender – nur ein Drittel rechnet damit, bis zu diesem Zeitpunkt in der Datennutzung fortgeschritten oder marktführend zu sein.
«Um die Digitalisierung voranzutreiben, sind nicht nur grosse Investitionen verlangt. Die Geschäftsmodelle sind neu auszurichten, weshalb die Versicherer sehr agil und flexibel sein müssen. Im anderen Fall besteht die Gefahr, von fremden Anbietern überholt zu werden», sagt Andrew Gallacher.
Keine Angst vor ausländischen Anbietern
Der Konkurrenz aus dem Ausland blicken die Schweizer Versicherungsunternehmen recht gelassen entgegen: Rund zwei Drittel der Befragten erwarten keinen Eintritt von ausländischen Konkurrenten. Begründet wird dies unter anderem damit, dass der Schweizer Markt über die höchste Versicherungsdichte verfügt und die Regulierung kein grenzüberschreitendes Geschäft ausländischer Versicherer zulässt, falls diese über keine Präsenz in der Schweiz verfügen. Falls sich doch ein ausländischer Anbieter in die Schweiz wagen sollte, dann rechnen die Befragten damit, dass es sich um branchenfremde Anbieter wie Amazon oder Google handelt.
Der regulatorische Aufwand nimmt zu
Zur Verschlechterung des Geschäftsumfelds trägt auch die Regulierung bei. 57 Prozent der Befragten sehen in der Bewältigung der Auflagen einen der Hauptgründe für die allgemeine Verschlechterung. Dies spiegelt sich darin, dass der regulatorische Aufwand über die letzten Monate bei 93 Prozent der Unternehmen zugenommen hat. Dazu führt nach Ansicht der Versicherer vor allem das Bestreben der Schweizer Regulierungsbehörden, die eidgenössischen Regeln jenen der Europäischen Union anzupassen. Als Beispiele werden unter anderem das Finanzdienstleitungsgesetz sowie die Teilrevision der Versicherungsaufsichtsverordnung genannt, mit welcher eine Äquivalenz der Solvenzregime angestrebt wird.
Fokus auf Effizienzsteigerung und Kostenreduktion
Der grundlegende Wandel stellt das Geschäftsmodell einiger Versicherer in Frage. Als Reaktionen konzentrieren sich Unternehmen darauf, die Prozesse effizienter zu gestalten. Über die Hälfte der Befragten will in den nächsten Jahren betriebsinterne Optimierungen erzielen. Im Vordergrund stehen transaktionsintensive Geschäften wie Haftpflicht-, Motorfahrzeug- oder Reiseversicherungen. Dabei werden zum Teil beträchtliche Kosteneinsparungen angestrebt: Zwei Drittel der Befragten erachten eine Kostensenkung von 10 bis 30 Prozent als nötig, um konkurrenzfähig zu bleiben.
Informationen zur Studie
Die vorliegende Studie ist von EY zusammen mit dem Institut für Accounting, Controlling und Auditing der Universität St.Gallen erarbeitet worden. Kern der Untersuchung bilden Expertenbefragungen, die zwischen April und Anfang Juni 2015 auf der Basis von Fragebogen sowie ausführlichen persönlichen Gesprächen durchgeführt worden sind. Daran haben sich die CEOs und andere Mitglieder der Geschäftsleitung von 15 Schweizer Versicherungsgesellschaften beteiligt. Die befragten Unternehmen decken im Bereich Leben mehr über drei Viertel, im Bereich Schaden- und Krankenversicherung über die Hälfte des Marktes ab.