Argentiniens geraubte Kinder: Auf der Suche nach dem Ich
In den Siebzigerjahren liess die Junta Oppositionelle töten und entführte ihre Babys – sie wuchsen mit falschen Identitäten in regimetreuen Familien auf. Jetzt sucht Argentinien weltweit nach ihnen.
Manuel Gonçalves Granada war fünf Monate alt, als die Soldaten kamen. Um sechs Uhr morgens umstellten Dutzende Militärs und Polizisten das Haus in der argentinischen Stadt San Nicolás. Mit Maschinengewehren und Granaten beschossen sie das Gebäude, sie sprengten die Türen, Fenster zersplitterten.
Manuels Mutter Ana María konnte ihren Sohn gerade noch in einem Schrank verstecken, bevor sie ermordet wurde. »Sie haben vierzehnmal auf meine Mutter geschossen«, erzählt der heute 45-Jährige. »Ich war im selben Raum wie sie.« Ihn, den einzigen Überlebenden der später als »Massaker von San Nicolás« bekannten Operation, brachten die Militärs ins Krankenhaus. Sie bewachten das Baby wie einen Schwerverbrecher, während es sich von einer Rauchvergiftung erholte – dann gaben sie es zur Adoption frei. Das war im November 1976.
Die Babys aus den Folterzentren
Rund 30.000 Studenten, Regimekritiker und Widerstandskämpfer wurden während der Militärdiktatur in Argentinien von 1976 bis 1983 verschleppt und ermordet. Sie wurden zu Tode gefoltert, erschossen und in Massengräbern verscharrt – oder betäubt und gefesselt aus Flugzeugen in den Río de la Plata geworfen. Viele Frauen verschwanden kurz nach der Geburt ihrer Kinder. Die Babys, die in den Folterzentren zur Welt kamen, sowie entführte Kleinkinder zogen die Militärs selbst auf oder gaben sie an regimetreue oder politisch unauffällige Familien weiter.