Mit dem Schlimmsten zu rechnen: Explosion im Reaktorblock des Atomkraftwerks Fukushima 1.
Tokio – Nach dem verheerenden Erdbeben in Japan hat sich im beschädigten Atomkraftwerk in Fukushima 1 im Nordosten Japans eine Explosion ereignet. Laut Regierungsangaben wurde die Aussenhülle des Reaktors abgesprengt. Auf TV-Bildern war eine Rauchwolke zu sehen. Diese deutet darauf hin, dass die Explosion sehr heftig war. Gemäss dem Sender ARD, der sich unter anderem auf japanische TV-Stationen beruft, hat die Atombehörde am Samstagmittag mitteleuropäischer Zeit bestätigt, dass eine «Kernschmelze begonnen» habe.
Später liess die Atomaufsichtsbehörde verlauten, in einem Reaktor des AKW Fukushima 1 habe es «möglicherweise» eine Kernschmelze gegeben. Der deutsche Umweltminister Norbert Röttgen sagte am Samstagabend gegenüber der ARD, dass die Tatsache, wonach der beschädigte Reaktorblock nur noch von aussen gekühlt werde, darauf hinweise, dass eine Kernschmelze stattgefunden habe.
Kühlung mit Meerwasser
Nach bislang unbestätigten Berichten wurden bei der massiven Explosion drei Menschen verstrahlt, vier weitere Arbeiter wurden verletzt ins Spital eingeliefert. In der Nacht zum Samstag hatte sich die Lage am beschädigten Atomkraftwerk Fukushima 1 dramatisch zugespitzt. Aus dem Meiler trat radioaktives Cäsium 137 aus, wie die Agentur Kyodo unter Berufung auf die Atomsicherheitskommission berichtete. Der japanische Ministerpräsident Naoto Kan rief erstmals in der Geschichte des Landes Atomalarm aus. Mittlerweile versuchen die Behörden, den Reaktor äusserlich mit Meerwasser zu kühlen. Diese Prozedur kann mehrere Stunden bis Tage in Anspruch nehmen – Ausgang ungewiss.
Radioaktivität entwichen
Die japanische Regierung bestätigte auch, dass am Unglücksort Radioaktivität entwichen ist, allerdings sei die freigesetzte Menge «sehr gering». Bei der Explosion habe es sich um Wasserstoff gehandelt, der zum Kühlen der Anlage verwendet wird. Die Regierung hat Evakuierungen angeordnet. Da der Wind Richtung Meer wehe, könne die Sicherheit garantiert werden. Auch würden die Ingenieure alles unternehmen, um das Kühlsystem wieder in Betrieb zu setzen. Insgesamt wurden wegen des gewaltigen Erdbebens zehn Reaktoren abgeschaltet.
Kühlsysteme zusammengebrochen
Die Nachrichtenagentur AP berichtete am frühen Samstagmorgen mitteleuropäische Zeit, Japan habe auch für die Schwesteranlage Fukushima 2 (Fukushima-Daini) den nuklearen Notstand ausgerufen. Der Kraftswerksbetreiber Tepco hatte zuvor mitgeteilt, das Kühlsystem von drei Reaktoren in Fukushima-Daini sei ausgefallen. Laut dem «Guardian» brach das System zusammen, als die Temperatur des Kühlwassers auf über 100 Grad stieg. Die Anlage Fukushima-Daini befindet sich etwa zehn Kilometer südlich von Fukushima-Daiichi. Laut Tepco ist der Druck in den Reaktoren konstant, steige aber in den Sicherheitsbehältern. Ob hier der Bedarf bestehe, Druck abzulassen, sei noch unklar, sagte ein Sprecher. Sollte es dazu kommen, würde auch Radioaktivität freigesetzt. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes forderten die Behörden deshalb Anwohner auf, ihre Häuser zu verlassen. Die Evakuationszone wurde mittlerweile auf einen Umkreis von 20 Kilometern ausgedehnt, wie der Rundfunksender NHK berichtete.
Gefahr auch von abgeschalteten AKWs
Das nach dem Ausfall der Hauptkühlung in Gang gesetzte Notkühlsystem konnte nach Informationen japanischer Experten nur noch im Batteriebetrieb gefahren werden – mit Energie für wenige Stunden. «Im allerschlimmsten Fall droht dann eine Kernschmelze», sagte der Sprecher der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) in Köln, Sven Dokter. Der Greenpeace-Reaktorexperte Heinz Smital erklärte der Nachrichtenagentur dpa, selbst ein abgeschaltetes Atomkraftwerk erzeuge noch so viel Nachwärme, dass man eine Kernschmelze nur dann verhindern könne, wenn die Kühlung sichergestellt sei. Das Erdbeben habe eine sehr grosse Energie gehabt, «so dass viele Systeme möglicherweise nicht funktionieren wie sie sollten».
Feuer in Turbinengebäude
Im ebenfalls abgeschalteten Atomkraftwerk Onagawa brach ein Feuer in einem Turbinengebäude aus. Die Betreibergesellschaft erklärte, dass keine radioaktive Strahlung ausgetreten sei. Der Brand wurde nach Angaben der Behörden nach einigen Stunden gelöscht. Der atomare Notfall sei ausgerufen worden, um Notfallmassnahmen der Behörden zu unterstützen, sagte Regierungssprecher Yukio Edano. Zuvor hatte Kan in einer ersten Beurteilung der Lage erklärt, dass es keine Probleme bei den Atomkraftwerken gebe. In Fukushima gibt es zwei Atomkraftwerke, Fukushima-Daiichi mit acht und Fukushima-Daini mit vier Siedewasserreaktoren. Das Atomkraftwerk Onagawa besteht aus drei Siedewasserreaktoren, die von 1984 bis 2002 an der Ostküste von Honshu gebaut wurden.
IAEA stuft Vorfall in INES-Kategrorie 5 ein
Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) stufte den Vorfall in Fukushima in die Kategorie 4 auf der INES-Skala ein. Die «International Nuclear Event Scale» reicht von 0 bis 7. Die höchste Stufe ist die 7, ein katastrophaler Unfall. Dieser wurde bisher nur mit dem GAU von Tschernobyl 1986 verzeichnet. Der Zwischenfall von 1979 auf Three Mile Island in den USA wurde in die Kategorie 5 eingestuft. Ab INES-2 muss die IAEA informiert werden. Vor mehr als sechs Jahren kamen bei einem Unfall in einem japanischen Atomkraftwerk vier Arbeiter durch kochend heissen Dampf ums Leben. Sieben Menschen erlitten wegen eines Lecks in einem Reaktor-Turbinengebäude des Mihama-Kraftwerks in der nordwestlichen Provinz Fukui damals schwere Verbrühungen. (awp/mc/upd/ps)
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