Biden auf dem Weg nach Europa – Nato verstärkt Ostflanke
Kiew / Brüssel – US-Präsident Joe Biden ist am Mittwoch zu seiner Europareise aufgebrochen. Erster Stopp ist Brüssel, wo am Donnerstag wegen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine mehrere Gipfel stattfinden. Biden stieg auf dem Militärflughafen Joint Base Andrews unweit der US-Hauptstadt Washington in sein Flugzeug Air Force One. In Brüssel treffen sich die Staats- und Regierungschefs der Nato, der EU sowie der führenden demokratischen Wirtschaftsmächte (G7).
Biden und die anderen Staats- und Regierungschefs wollten die «nächste Phase» der militärischen Unterstützung für die Ukraine ankündigen, sagte US-Sicherheitsberater Jake Sullivan. Es gehe auch um «ein weiteres Sanktionspaket» gegen Russland. Ein wichtiges Element werde sein, bestehende Strafmassnahmen so zu verschärfen, dass Moskau eine Umgehung der Sanktionen weiter erschwert werde. Auch Abgeordnete des russischen Parlaments sollen mit weiteren Sanktionen belegt werden.
Nato verstärkt Ostflanke
Derweil will die Nato ihre Ostflanke zur Abschreckung Russlands mit vier weiteren Gefechtsverbänden verstärken. Wie Generalsekretär Jens Stoltenberg am Mittwoch in Brüssel mitteilte, sind als Standorte für die sogenannten Battlegroups die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien vorgesehen. Stoltenberg äusserte sich vor dem Sondertreffen der westlichen Allianz, zu dem am Donnerstag die Staats- und Regierungschefs der 30 Nato-Mitgliedsländer in Brüssel erwartet werden. Der Gipfel findet auf den Tag genau einen Monat nach Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine statt.
Bislang hat die Nato nur in den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie in Polen dauerhaft multinationale Verbände stationiert. Normalerweise sind sie etwa 1000 Soldaten stark. Die Ausweitung der Präsenz bedeutet, dass künftig von der Ostsee im Norden bis zum Schwarzen Meer im Süden Nato-Truppen präsent sein werden. Zuletzt waren zur Verstärkung der Ostflanke bereits Kräfte der schnellen Nato-Einsatztruppe NRF in das ukrainische Nachbarland Rumänien verlegt worden.
Vier Wochen Krieg in der Ukraine
In der Ukraine dauerten die heftigen Kämpfe auch am Mittwoch an, wobei die russischen Truppen nach westlicher Einschätzung wegen Ermattung und Nachschubproblemen kaum vorankommen. Auf Befehl von Präsident Wladimir Putin hatten russische Truppen am 24. Februar die Ukraine angegriffen. Seitdem setzen die USA, die EU und Staaten wie Japan und Australien Moskau mit Wirtschaftssanktionen unter Druck.
Der «militärische Spezialeinsatz», wie Moskau den Krieg nennt, laufe nach Plan, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow in einem auf Englisch geführten Interview mit dem US-Sender CNN am Dienstag. Putin habe aber seine Ziele in der Ukraine «noch nicht» erreicht. Als solche nannte Peskow unter anderem das Dezimieren des ukrainischen Militärs sowie die Einsicht Kiews, dass die 2014 von Moskau annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim nun ein «unverrückbarer Teil Russlands» sei. Zudem müsse die Ukraine anerkennen, dass die Separatistenregionen im Osten nun «unabhängige Staaten» seien.
Der russische Aussenminister Sergej Lawrow warf den USA vor, den Krieg in der Ukraine aus Eigeninteresse in die Länge zu ziehen. «Sie spekulieren darauf, weitere Waffen in die Ukraine zu pumpen», sagte er der Agentur Interfax nach bei einer Rede vor Moskauer Studenten.
Äusserungen zu Atomwaffen
Peskow reagierte in dem Interview mit CNN mehrfach ausweichend auf die Frage, ob Putin den Einsatz von Atomwaffen in dem Konflikt ausschliesse. Er verwies auf die russische Sicherheitsdoktrin, nach der Nuklearwaffen eingesetzt würden, wenn eine «existenzielle Bedrohung» für Russland bestehe.
Das US-Verteidigungsministerium nannte die Äusserungen zu Atomwaffen gefährlich. «So sollte sich ein verantwortungsbewusster Nuklearstaat nicht verhalten», sagte Sprecher John Kirby. Trotz dieser Rhetorik hätten die USA aber bislang nichts beobachtet, was eine erhöhte Alarmbereitschaft der eigenen Atomstreitmacht nötig machen würde.
Selenskyj hofft auf weitere Unterstützung
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erhofft sich von den Brüsseler Gipfeltreffen am Donnerstag weitere Unterstützung für sein Land. Das sagte er in einem Video, das wie üblich nachts von Kiew aus verbreitet wurde. Zum Nato-Gipfel soll der ukrainische Staatschef per Video zugeschaltet werden.
Sein Berater Mychajlo Podoljak forderte moderne Flugabwehrwaffen, wenn die Nato schon nicht den Himmel über der Ukraine für russische Flugzeuge sperren wolle. Auch brauche die Ukraine Marschflugkörper und Munition für Raketenartillerie. Die internationale Gemeinschaft sollte russisches Öl strikt boykottieren und Häfen weltweit für russische Schiffe sperren, schrieb Podoljak auf Telegram.
Lage in Mariupol
Zur Lage in der seit Wochen heftig umkämpften Stadt Mariupol teilte die Militärführung in Kiew nur mit, die ukrainischen Kräfte verteidigten sich gegen Angriffe aus allen Richtungen. Die Berichte aus der Kampfzone waren nicht unabhängig überprüfbar. Russland wolle mit der Einnahme von Mariupol eine Landverbindung von der Halbinsel Krim in die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk in der Ostukraine schaffen, bestätigte ein ranghoher russischer Funktionär. Die britische BBC zitierte einen hochrangigen Mitarbeiter der Hafenbehörde, wonach die Anlagen weitgehend intakt geblieben seien.
US-Schätzungen zu Verlusten Russlands
Die US-Regierung und auch die Ukraine erklären seit Tagen, dass die russischen Streitkräfte logistische Probleme hätten und vor allem im Norden und Osten des Landes kaum Fortschritte machten. Die ukrainischen Truppen gingen an einigen Stellen im Süden wieder zu Gegenangriffen über, sagte ein Vertreter des Pentagons. Von den eingesetzten russischen Truppen seien mittlerweile etwa zehn Prozent durch Tod oder Verwundung ausgeschaltet. Militärs gehen erfahrungsgemäss davon aus, dass Truppenverbände kampfunfähig werden, wenn sie etwa ein Zehntel ihrer Mannstärke verlieren.
In den vergangenen Tagen hatten US-Vertreter die russischen Verluste auf etwa 7000 getötete Soldaten geschätzt. Nach britischer Einschätzung gruppieren sich die russischen Kräfte derzeit um und könnten mit einem neuen Angriff grössere ukrainische Verbände im Osten einkesseln. (awp/mc/pg)