Washington – Nach dem Ende des internationalen Militäreinsatzes in Afghanistan hat US-Präsident Joe Biden seine umstrittene Abzugsentscheidung vehement verteidigt. «Es war an der Zeit, diesen Krieg zu beenden», sagte Biden am Dienstag im Weissen Haus. Die Alternative wäre gewesen, Zehntausende weitere Soldaten in das Land zu schicken und den Konflikt zu eskalieren, argumentierte er. Mit dem Abzug der letzten US-Soldaten vom Flughafen Kabul war in der Nacht zu Dienstag der internationale Afghanistan-Einsatz nach fast 20 Jahren zu Ende gegangen.
Nun richten sich die Blicke auf die erneute Herrschaft der militant-islamistischen Taliban in dem Land. Die Vorstellung der neuen Führung wird in Kürze erwartet. In der Nacht zu Dienstag hatte das letzte US-Militärflugzeug den Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul verlassen. Damit endete Amerikas längster Krieg. Biden betonte erneut, sein Vorgänger Donald Trump habe eine Vereinbarung mit den Taliban geschlossen und den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan zugesagt. Er selbst habe die Wahl gehabt, daran festzuhalten oder Zehntausende weitere US-Soldaten in den Krieg zu schicken. Biden betonte, er habe den Krieg nicht ewig verlängern wollen – auch den Abzug nicht.
Klare, erreichbare Ziele setzen
Biden kündigte Konsequenzen für künftige militärische Einsätze an. «Wir müssen aus unseren Fehlern lernen», sagte er. «Es geht darum, eine Ära grosser Militäroperationen zur Umgestaltung anderer Länder zu beenden.» Künftige Einsätze müssten klare, erreichbare Ziele haben. Sie müssten sich ausserdem «auf das grundlegende nationale Sicherheitsinteresse» der USA konzentrieren.
Kampf gegen IS: «Wir sind mit euch noch nicht fertig»
Der Präsident versprach ausserdem, die USA würden auch nach dem Abzug aus Afghanistan weiter gegen den örtlichen Ableger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) vorgehen. Er drohte der Gruppe, die sich zum jüngsten verheerenden Anschlag am Flughafen in Kabul bekannt hatte: «Wir sind mit euch noch nicht fertig.» Bei der Attacke waren kurz vor dem Einsatzende Dutzende Afghanen und 13 US-Soldaten umgekommen.
Zehntausende wollen Afghanisten verlassen
Mit dem Abzug der letzten US-Soldaten endete auch die militärische Evakuierung von US-Bürgern, Verbündeten und schutzbedürftigen Afghanen. Die USA und ihre Partner hatten in den vergangenen gut zwei Wochen in einer gewaltigen Evakuierungsmission westliche Staatsbürger und afghanische Schutzbedürftige ausgeflogen. Allein das US-Militär brachte nach Angaben der US-Regierung rund 79’000 Zivilisten ausser Landes, darunter rund 6000 Amerikaner. Die USA und ihre Verbündeten hätten gemeinsam mehr als 123’000 Menschen ausgeflogen.
Immer noch befinden sich aber Zehntausende Menschen in Afghanistan, die vor den Taliban fliehen wollen – die meisten davon Afghanen. Biden sagte, es seien wohl auch noch 100 bis 200 US-Bürger in Afghanistan, die «eine gewisse Absicht zur Ausreise» hätten. Die meisten zurückgebliebenen seien doppelte Staatsbürger und hätten eine langfristige Bindung an Afghanistan. «Wir halten daran fest, sie rauszubekommen, falls sie rauskommen wollen», sagte Biden.
Die US-Regierung und andere Partner haben zugesagt, sie wollten sich auch nach dem Abzug der internationalen Truppen dafür einsetzen, dass ausreisewillige Afghanen und westliche Staatsbürger das Land ungehindert verlassen dürften. Dafür sind sie auf die Kooperation mit den Taliban angewiesen. Diese haben zumindest zugesagt, Ausreisen zu gewähren. Wie genau das geschehen soll, ist offen. Nach Angaben von Aussenminister Maas sind auch noch rund 300 Deutsche in Afghanistan.
Warnung vor humanitärer Katastrophe
Derweil warnte UN-Generalsekretär António Guterres vor dem völligen Zusammenbruch der Grundversorgung in Afghanistan. «Eine humanitäre Katastrophe bahnt sich an», sagte Guterres in New York. «Fast die Hälfte der Bevölkerung Afghanistans – 18 Millionen Menschen – sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, um zu überleben.» Alle Mitgliedstaaten seien aufgefordert, «sich für die Menschen in Afghanistan in ihrer dunkelsten Stunde der Not einzusetzen».
Mit dem Truppenabzug überlässt der Westen das Land wieder jenen Islamisten, die er durch den US-geführten Einsatz Ende 2001 entmachtet hatte. Die Taliban hatten Mitte August nach einem militärischen Eroberungszug, der sich nach Bidens Abzugsankündigung rasant beschleunigt hatte, in Afghanistan wieder die Macht übernommen. Bisher traten die Islamisten gemässigter auf als während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001. Viele Afghanen bezweifeln aber, dass sie bei dieser Linie bleiben. Es gibt Berichte über Menschenrechtsverletzungen und Angriffe auf Journalisten.
Bisher ist weitgehend unklar, wie die Taliban das Krisenland regieren wollen. Der Taliban-Führungsrat besprach die Bildung einer neuen islamischen Regierung sowie die aktuelle Lage und die Sicherheit im Land bei einem Treffen in der südlichen Provinz Kandahar. Das Treffen von Samstag bis Montag leitete Taliban-Führer Haibatullah Achundsada, wie Sprecher Sabiullah Mudschahid am Dienstag auf Twitter mitteilte. Auch über ein neues islamisches Kabinett sei dabei gesprochen worden. Anschliessend habe Achundsada dem Führungsrat umfassende Anleitungen gegeben. Der Ort des Treffens wurde nicht genannt. (awp/mc/pg)