Blinken zu Gesprächen in Kiew
Kiew – US-Aussenminister Antony Blinken will bei einem Besuch in der Ukraine unter anderem mit Präsident Wolodymyr Selenskyj die neuesten Entwicklungen auf dem Schlachtfeld und die Auswirkungen der neuen US-Hilfen auf den Abwehrkampf gegen Russland erörtern. Die Ukraine sieht sich einer neuen russischen Offensive im Nordosten des Landes ausgesetzt. Angesichts der Verschlechterung der Lage sagten Deutschland und die nordischen Länder weitere Waffen zu.
Blinken traf am Dienstag in der Hauptstadt Kiew ein. Er wolle dort «die anhaltende Unterstützung der Vereinigten Staaten für die Ukraine» unterstreichen, teilte der Sprecher des US-Aussenministeriums, Matthew Miller, mit. Darüber hinaus werde es bei den Gesprächen um langfristige Sicherheitsverpflichtungen sowie die Unterstützung der wirtschaftlichen Erholung der Ukraine gehen. Geplant ist auch eine Rede von Blinken. Seine Reise sollte bis zum Donnerstag dieser Woche andauern.
Es ist der vierte Besuch Blinkens in Kiew seit der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022. Neben Selenskyj wollte Blinken unter anderem Aussenminister Dmytro Kuleba treffen. Die US-Regierung hatte vergangene Woche ein weiteres Paket mit Militärhilfen für Kiew in einem Umfang von rund 400 Millionen US-Dollar (rund 371 Millionen Euro) angekündigt. Die vorherigen US-Mittel für Ukraine-Hilfen waren Ende des vergangenen Jahres ausgelaufen. Neue Unterstützung aus den USA blieb damit über Monate weitgehend aus. Das angegriffene Land ist dringend auf die Hilfe aus den USA angewiesen.
Ukraine wehrt sich gegen Angriff bei Charkiw
Derzeit steht der neue grosse Angriff russischer Truppen im Grenzgebiet nahe der Millionenstadt Charkiw im Fokus. Russische Kräfte drangen am Montag bis zum Nordrand der Stadt Wowtschansk etwa 40 Kilometer nordöstlich von Charkiw vor. Der ukrainische Generalstab in Kiew stellte es so dar, dass die Gegend von Angreifern gesäubert werde. Der russische Militärblog Rybar berichtete, die russischen Einheiten hätten sich dort festgesetzt.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, die Ukraine müsse alles daran setzen, eine Ausweitung der Front zu verhindern. «Unsere Aufgabe ist klar: den Versuch Russlands zu vereiteln, den Krieg auszuweiten», sagte er in seiner abendlichen Videoansprache. Die Nacht auf Dienstag begann für die Ukraine mit russischen Drohnenangriffen vor allem im Süden, wie die Luftwaffe mitteilte.
Ukraine gruppiert Truppen um
Selenskyj und der Generalstab nahmen für die Verteidiger in Anspruch, die Lage unter Kontrolle zu haben. In der Grenzregion bei Charkiw gebe es Gegenangriffe, sagte der Präsident am Montag in Kiew. «Das Gebiet ist verstärkt worden.» Die Führung lasse auch andere Frontabschnitte nicht aus dem Auge. «Natürlich lassen wir die Gebiete um Donezk nicht ohne die nötige Unterstützung und den nötigen Nachschub, nämlich in Richtung Kramatorsk und Pokrowsk.» Nach Einschätzung von Militärexperten ist ein Ziel des neuen russischen Angriffs, die Ukraine zum Abziehen von Truppen an anderen bedrohten Frontabschnitten im Osten zu zwingen.
«Die ukrainischen Soldaten fügen dem Feind Verluste zu, erobern ihre Stellungen zurück und erzielen in einigen Gebieten taktische Erfolge», hiess es im Bericht des Generalstabs. Im Laufe des Tages habe es an der Front im Osten und Süden 140 Gefechte gegeben. Selenskyj bestätigte Militärangaben, dass im Gebiet Donezk ein russischer Kampfjet vom Typ Su-25 abgeschossen worden sei.
US-Institut kritisiert Beschränkungen beim Waffeneinsatz
Der neue russische Angriff werde der Ukraine in den kommenden Monaten grosse Probleme bereiten, schrieb das US-Institut für Kriegsstudien (ISW) in einer Analyse. Der Experte George Barros kritisierte in der Analyse das Verbot von Washington, dass die Ukraine gelieferte Waffen aus den USA nicht gegen russisches Gebiet einsetzen dürfe. Dies schränke die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine ein. Für die russische Armee schaffe es dagegen eine Art Reservat, in dem sie ungehindert ihre Angriffe vorbereiten könne. Die russische Luftwaffe könne ungehindert aus eigenem Luftraum Gleitbomben auf die Grossstadt Charkiw abschiessen. Die USA und Deutschland haben Beschränkungen verhängt, weil sie hoffen, dass sich so eine Eskalation mit Russland vermeiden lässt.
Erneut Explosionen in russischer Grenzregion Belgorod
Infolge des Angriffskriegs gegen die Ukraine steht Russlands Grenzregion jedoch immer wieder unter Beschuss, wobei Opfer und Schäden nicht vergleichbar sind mit den Kriegsfolgen in der Ukraine. Die staatliche Nachrichtenagentur Tass berichtete am Dienstagmorgen, in der Region Belgorod habe es nach einem Raketenalarm Explosionen gegeben. Das russische Verteidigungsministerium teilte mit, die Luftabwehrsysteme hätten über der Region 25 Raketen abgeschossen, die aus der benachbarten Ukraine abgefeuert worden seien. Diese Angaben liessen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.
Neue Rüstungszusagen aus dem Norden
Angesichts der russischen Offensive im Nordosten der Ukraine sagten Deutschland und die nordischen Länder weitere Waffen zu. «Wir sind geeint in unserer Unterstützung für die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf gegen den russischen Angriff», versicherte Bundeskanzler Olaf Scholz bei einem Treffen mit den Regierungschefs von Schweden, Dänemark, Finnland, Norwegen und Island in Stockholm. «Wir werden die Ukraine weiter unterstützen – so lange wie nötig.»
Finnlands Regierungschef Petteri Orpo sagte, die Lage auf dem Schlachtfeld sei kritisch und es sei an der Zeit, zu reagieren und mehr zu tun. «Wir wollen kein neues Mariupol in Charkiw sehen. Deshalb muss jedes einzelne Land im Westen, in der Europäischen Union sofort alles tun, was es kann.» Konkrete neue Zusagen etwa für mehr Patriot-Flugabwehrsystemen gab es bei dem Treffen aber nicht. Die Bundesregierung versucht derzeit, weitere Patriot-Luftabwehrsysteme für die Ukraine zu organisieren.
Berlin schraubt Erwartungen an Friedenskonferenz herunter
Scholz dämpfte die Erwartungen an die Ukraine-Friedenskonferenz im Juni in der Schweiz. «Da sollte niemand überhöhte Erwartungen haben: Wir verhandeln dort nicht über das Ende des Krieges», sagte Scholz dem «Stern». «Bestenfalls ist es der Einstieg in einen Prozess, der zu direkten Gesprächen zwischen der Ukraine und Russland führen könnte. Es wird in der Schweiz um die Sicherheit von Atomkraftwerken gehen, über Getreideexporte, über die Frage von Gefangenenaustausch und über das nötige Tabu, was einen Einsatz von Atomwaffen angeht. Noch mal: Das ist alles noch ein zartes Pflänzchen.»
Über das Engagement der Europäer im Ukraine-Krieg zeigte sich der Sozialdemokrat nach seinen Appellen für mehr Waffenlieferungen enttäuscht. Es sei «offen gesagt noch nicht genug», resümierte er. «Das ist bedrückend, denn die Ukraine braucht dringend weitere Luftverteidigungssysteme. Putin will offensichtlich die Infrastruktur der Ukraine zerstören.» (awp/mc/ps)