Bundeskanzler Scholz: Russland darf Krieg nicht einfrieren – Nacht im Überblick
Berlin – Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat Russland davor gewarnt, auf ein Einfrieren des Krieges gegen die Ukraine entlang des bisher eroberten Territoriums zu setzen. «Russland muss verstehen, dass es nicht darum gehen kann, eine Art kalten Frieden zu schliessen – indem etwa der nun bestehende Frontverlauf zur neuen «Grenze» zwischen Russland und der Ukraine wird. Das würde Putins Raubzug nur legitimieren», sagte er dem «Kölner Stadt-Anzeiger» (Freitag). «Es geht vielmehr um einen fairen Frieden, und Voraussetzung dafür ist der Rückzug von russischen Truppen.»
Offen liess der Kanzler die Frage, ob dies auch für die seit 2014 von Russland besetzte Krim gelte. Auf die Frage, ob seine Bedingung auch für die Halbinsel gelte, bekräftigte er lediglich seine Aussage: «Der Rückzug von Truppen. Es ist nicht unsere Sache, anstelle der Ukraine zu formulieren, welche Vereinbarungen sie treffen will.» Scholz benutzte die unbestimmtere Formulierung «Rückzug von Truppen» und nicht etwa «Rückzug der Truppen», worunter verstanden werden könnte: aller Truppen.
Scholz wich auch der Frage aus, ob der russische Präsident Wladimir Putin stürzen müsse. «Ich halte nichts von solchen spekulativen Fragestellungen. Es wird am Ende eine Vereinbarung zwischen den Regierungen in Moskau und Kiew geben müssen», sagte der Kanzler. Sein letztes Telefonat mit dem Kremlchef sei schon einige Zeit her. «Ich habe aber vor, zu gegebener Zeit auch wieder mit Putin zu sprechen.»
Moskau für Aufteilung der Ukraine zwischen Russland und EU
Derweil hat die Führung in Moskau eine Aufteilung der Ukraine zwischen Russland und der Europäischen Union ins Gespräch gebracht. Der Vize-Chef des russischen Sicherheitsrates, Ex-Präsident Dmitri Medwedew, skizzierte in der Nacht zum Freitag Szenarien für den Ausgang des Krieges. Aussicht auf Frieden gäbe es demnach nur, wenn Russland sich den Grossteil des Nachbarlands einverleibt. In der von Medwedew bevorzugten Variante würden westliche Regionen der Ukraine mehreren EU-Staaten zugeschlagen und die östlichen Russland, während Einwohner der zentralen Gebiete für den Beitritt zu Russland stimmen.
Bei diesem Ausgang «endet der Konflikt mit ausreichenden Garantien, dass er auf lange Sicht nicht wieder aufgenommen wird», schrieb Medwedew beim Online-Dienst Telegram. Sollte hingegen ein unabhängig gebliebener Teil der Ukraine der EU oder der Nato beitreten, sei mit einem Wiederaufflammen der Kampfhandlungen zu rechnen, «mit der Gefahr, dass es schnell in einen vollwertigen dritten Weltkrieg übergehen kann», behauptete der Vertraute von Kremlchef Putin.
Bei einem nach seinen Worten für Moskau «temporär» annehmbaren Szenario würde die Ukraine im Zuge des Krieges vollständig zwischen EU-Ländern und Russland aufgeteilt, während in Europa eine ukrainische Exil-Regierung gebildet würde. Russland führt seit mehr als 15 Monaten einen Angriffskrieg in der Ukraine.
Selenskyj: Mehr russische Kriegsgefangene für Austausch nehmen
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rief seine Truppen auf, mehr russische Soldaten gefangen zu nehmen. «Jeder an der Front sollte daran denken: Je mehr russische Kriegsgefangene wir nehmen, desto mehr unserer Leute werden zurückkehren», sagte Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache am Donnerstag.
Er begrüsste einen Gefangenenaustausch, bei dem 106 ukrainische Militärangehörige von der russischen Seite übergeben worden seien. Sie hatten im Gebiet der inzwischen fast völlig zerstörten Stadt Bachmut gekämpft, wie Selenskyj sagte. Darunter seien acht ukrainische Offiziere. Viele der zurückgekehrten Militärs hätten zuvor als vermisst gegolten. Selenskyj machte keine Angaben dazu, wie viele Russen bei dem Austausch am Donnerstag übergeben wurden.
Erneut Luftalarm in Kiew
In Kiew wurde in der Nacht zum Freitag erneut Luftalarm ausgelöst. Die ukrainische Hauptstadt war schon in den vergangenen Wochen anderem mit Drohnen angegriffen worden. Auch in zentralen Regionen des Landes wurden die Menschen aufgerufen, sich in Schutzunterkünfte zu begeben. In den westlichen Gebieten blieb die Nacht zunächst ruhig.
Russland meldet Abschuss einer Rakete im Gebiet Rostow
Im Süden Russlands wurde nach Behördenangaben eine ukrainische Rakete abgeschossen. Die Luftabwehr habe sie in der Nähe der Stadt Morosowsk getroffen, schrieb Gouverneur Wassili Golubew auf Telegram. In ukrainischen Medien wurde darauf verwiesen, dass es in Morosowsk einen russischen Militärflughafen gebe.
Lukaschenko: Stationierung russischer Atomwaffen in Belarus begonnen
Derweil hat Russland nach Angaben des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko mit der Stationierung taktischer Atomwaffen in dem Nachbarland begonnen. Auch die Zahl der Waffen und Orte der Lagerung seien festgelegt worden, sagte Lukaschenko am Donnerstag in Moskau nach einem Treffen mit Präsident Wladimir Putin. Details nannte Lukaschenko nicht. Damit erhält Belarus nach der freiwilligen Abgabe seiner Atomwaffen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nun erstmals seit den 1990ern Jahren wieder nukleare Raketen.
Zuvor hatte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu in Minsk bei einer Vertragsunterzeichnung betont, Moskau habe die alleinige Kontrolle und Entscheidung über den Einsatz der Atomwaffen. Putin hatte die Stationierung auch damit begründet, dass die USA seit Jahren Atomwaffen in Deutschland und anderen europäischen Staaten bereithielten.
US-Generalstabschef: F-16-Lieferungen wurden genau abgewogen
US-Präsident Joe Biden hatte beim G7-Gipfel führender demokratischer Wirtschaftsmächte vergangene Woche in Japan den Weg dafür freigemacht, der Ukraine im Rahmen einer Koalition von Verbündeten F-16-Kampfjets zu liefern. Sein Generalstabschef Mark Milley bezeichnete die Entscheidung für die Kampfjets als Ergebnis einer «knallharten militärischen Analyse». Kosten, Nutzen und Risiken seien dabei berücksichtigt worden, sagte Milley nach Video-Beratungen der internationalen Kontaktgruppe zur Koordinierung von Militärhilfe für das von Russland angegriffene Land.
Britisches Parlament stuft ukrainische Hungersnot als Völkermord ein
Nach dem Bundestag und dem EU-Parlament hat nun auch das britische Parlament die gezielt herbeigeführte Hungersnot in den 1930er Jahren in der Ukraine als Völkermord anerkannt. Das Unterhaus in London verabschiedete am Donnerstag einstimmig eine Entschliessung, die die konservative Abgeordnete Pauline Latham eingebracht hatte. Latham sieht in dem – für die konservative britische Regierung nicht bindenden – Beschluss eine Botschaft an Putin angesichts des Kriegs gegen die Ukraine. Unter der Verantwortung des sowjetischen Diktators Josef Stalin fielen 1932 und 1933 bis zu vier Millionen Menschen in der Ukraine dem sogenannten Holodomor («Mord durch Hunger») zum Opfer.
Das wird am Freitag wichtig
Die von Militärexperten erwartete ukrainische Gegenoffensive gegen Russlands Truppen hat nach den Worten von Selenskyjs Berater Mychajlo Podoljak bereits begonnen. Seine Erklärung dürfte neue Aufmerksamkeit auf die Entwicklung auf dem Schlachtfeld lenken. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) trifft sich in Estland mit den Regierungschefs der drei baltischen Länder, die alle an Russland grenzen. (awp/mc/ps)