Peking – Das Wirtschaftswunder ist vorbei. Das Reich der Mitte wuchs im vergangenen Jahr mit 7,4 Prozent so langsam wie seit 24 Jahren nicht mehr. «China kann nicht mehr die Wachstumslokomotive der Welt sein», sagt der Präsident der Europäischen Handelskammer in China, Jörg Wuttke, in Peking. Das Wachstum der zweitgrössten Volkswirtschaft der Erde dürfte sich in diesem Jahr noch weiter abbremsen. Der Weltwährungsfonds (IWF) sagt nur noch 6,8 Prozent für China voraus.
Die «neue Normalität» in China ist neben der Schwäche in der Eurozone, Japan, Russland und anderen Ölländern einer der Hauptgründe, warum der Währungsfonds seine Prognose für das globale Wachstum in diesem Jahr um 0,3 Punkte auf 3,5 Prozent senkte. «Das langsamere Wachstum in China beeinträchtigt den Rest von Asien», sagt IWF-Forschungsdirektor Olivier Blanchard in Peking bei der Vorlage des Konjunkturausblicks, der schlechter ausfällt als noch im Oktober.
Auf zwei, drei schwierige Jahre müssen sich auch deutsche und europäische Unternehmen in China einstellen. «Wir müssen clever durch die nächsten Jahre kommen», mahnt der EU-Kammerpräsident Wuttke. Niemand könne den chinesischen Markt aber links liegen lassen. Er werde mittel- und langfristig wieder extrem wichtig. «Es wird eine schwierige Phase, aber nach 2017 sollte China wieder durchstarten – vorausgesetzt, es geht die notwendigen Reformen an», sagt Wuttke.
Umsetzung der Reformen lässt auf sich warten
Aber genau hier stehen grosse Fragezeichen. Zwar hatte China vor mehr als einem Jahr tiefgreifende Reformen angekündigt, die dem Markt eine grössere Rolle einräumen sollten. Doch die Umsetzung lässt auf sich warten. Im Finanzsektor wurde schon etwas bewegt, aber bei den Staatsbetrieben gibt es keine Fortschritte. Selbst wo ein Zeitplan vorliegt, bleibt unklar, wann es losgehen soll. Mächtige Interessengruppen widersetzen sich, verteidigen ihre Einflusssphären.
Schmerzhafte Einschnitte sind nötig. «Langsames Wachstum ist nur dann gut, wenn es zum Bankrott obsoleter Firmen führt», sagt Wuttke und verweist auf die Stahl- oder Aluminiumindustrie. Er warnt vor Überkapazitäten. «Strukturreform heisst, dass es zu einer Konsolidierung kommt. Und das kann nur passieren, wenn Lokalregierungen aufhören, ihre örtlichen Lieblingsunternehmen künstlich am Leben zu erhalten.» Dafür wäre aber eine Steuerreform nötig, damit Bürgermeister wieder Geld in der Tasche bekämen und nicht von Industrieansiedlungen abhängig seien.
Nur wenig Raum für Stimulus
Neue Gefahr für die Wirtschaft droht nicht nur durch die hohe Verschuldung besonders von Unternehmen und Lokalregierungen, sondern auch durch den lange überhitzten, jetzt schwächelnden Immobiliensektor. Für Stimulus ist nur wenig Raum. «Der Ruf nach Unterstützung für das Wachstum oder nach geringeren Kreditkosten wird mit der Notwendigkeit ausbalanciert, den Anstieg des Verschuldungsgrades und der finanziellen Risiken einzudämmen», sagt Louis Kuijs, China-Ökonom der Royal Bank of Scotland.
«Wir haben die grösste Schuldenblase, die die Welt je gesehen hat», warnt Charlene Chu, die sich als frühere Analystin der Fitch Rating-Agentur einen Namen gemacht hat, unverblümt im Hongkonger Bloomberg TV. Die Kreditvergabe wachse zweimal so schnell wie die Wirtschaft, obwohl Deflation (anhaltend fallende Preise) am Horizont drohe.
Nach letzten Berechnungen der Standard Chartered Bank vom Sommer macht die Verschuldung 251 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Die Annahme, dass China schon irgendwie aus seinen Problemen herauswachsen könne, sei falsch, warnt Chu, heute Partner bei Autonomous Research Asia. «Mathematisch ist das unmöglich, wenn etwas zweimal so gross ist und doppelt so schnell wächst.» (awp/mc/upd/ps)