Das düstere New York des Südens
São Paulo ist ein Symbol für Ungleichheit. Reiche geniessen beispiellosen Luxus, die Ärmsten erfrieren auf den Strassen. Treffen mit besonderen Menschen der brasilianischen Metropole.
Die Sonne brennt vom Himmel. Ein Mann kniet auf dem Gehsteig, beugt sich vor, schlägt seinen Kopf gegen den Boden, immer wieder. Neben ihm eine Kiste mit weissen Putzlappen. »Gott, bitte hilf mir«, fleht er, »ich verkaufe nichts, absolut nichts.« Er schluchzt; seine Stirn kracht auf den Pflasterstein.
Es ist Mittagszeit im Zentrum von São Paulo. Menschen schlängeln sich zwischen im Stau stehenden Autos hindurch, bieten Kaugummis oder Taschentücher an. Kinder halten Autofahrern Pappschilder entgegen, auf denen »Fome«, Hunger, geschrieben steht.
»São Paulo ist für Lateinamerika, was Rom für das Imperium war«, sagt ein anderer Mann. Er sinkt in ein Sofa aus Samt im Inneren eines Palastes, an der Wand hängt ein Picasso. In der Küche bereitet eine Köchin Shrimps und Ente zu. Nelson Wilians gehört eine der grössten Anwaltsfirmen des Kontinents, seine Frau Anne leitet die Charity-Sparte. Ohne Bodyguards kann das Paar kaum auf die Strasse gehen. Doch das stört ihn nicht. »Ich liebe die Stadt mit all ihren Vorzügen und Lastern.«
Mit mehr als 22 Millionen Einwohnern ist São Paulo die grösste Metropole der südlichen Hemisphäre, die reichste Lateinamerikas – und eine der ungleichsten der Welt. An kaum einem Ort existieren Elend und Luxus in derart monströser Gleichzeitigkeit, prallen die Verzweiflung der Armen und die Abgehobenheit der Reichen so brutal aufeinander. Tausende Multimillionäre wohnen in São Paulo. Die Lebenserwartung im reichen, weissen Pinheiros liegt bei mehr als 80 Jahren, die in den ärmsten, schwarzen Vierteln bei nur 58. Die wohlhabenden Paulistas sprechen gerne vom New York der Südhalbkugel. Für die Ärmeren ist die Stadt ein erbarmungsloses Monster, das sie jederzeit zu verschlingen droht.