Bundeskanzlerin Angela Merkel. (Foto: Bundeskanzlerin.de)
Berlin – Nach dem vermuteten Lauschangriff auf das Handy von Kanzlerin Angela Merkel wird in Europa der Ruf nach Konsequenzen laut. Die Forderungen reichen von einer Unterbrechung der Freihandelsgespräche mit den USA bis hin zur Kündigung von Abkommen zur Datenweitergabe an die Amerikaner. Beim EU-Gipfel am Donnerstag in Brüssel schlug die Empörung unter Europas Politikern hohe Wellen.
EU-Parlamentschef Martin Schulz verlangte, die Gespräche mit den USA über eine Freihandelszone auszusetzen. «Ich glaube schon, dass wir jetzt mal unterbrechen müssen», sagte der SPD-Politiker kurz bevor er die EU-Staats- und Regierungschefs traf. «Das ist kein Arbeiten auf gleicher Augenhöhe.» Die EU verhandelt mit Washington seit Sommer über die Schaffung der weltgrössten Freihandelszone mit gut 800 Millionen Einwohnern. Experten hoffen auf bis zu zwei Millionen neue Arbeitsplätze. Das EU-Parlament redet in der Handelspolitik mit, weil es den Pakt billigen muss.
US-Botschafter einbestellt
Der amtierende Aussenminister Guido Westerwelle (FDP) bestellte in Berlin den US-Botschafter zum Rapport ein. “Sollten die Vorwürfe zutreffen, dann wäre das eine klare Verletzung deutscher Interessen”, sagte der Vorsitzende des Bundestagsgremiums zur Geheimdienst-Kontrolle, Thomas Oppermann (SPD), in Berlin vor einer Sondersitzung der Abgeordneten. Die NSA-Affäre müsse neu aufgerollt werden. SPD-Chef Sigmar Gabriel betonte, es gehe ums Prinzip: “Ich möchte nicht, dass der Skandal nur deshalb gross ist, weil es einen Regierungschef betrifft.”
Nach dem Eklat um Merkels Handy wurden die Spähaktionen des US-Geheimdiensts NSA zum Gipfel-Thema. Die litauische Staatspräsidentin Dalia Grybauskaite sagte: «Ich denke, dass wir das teilweise im (Europäischen) Rat diskutieren werden.» Litauen hat derzeit die EU-Ratspräsidentschaft inne.
Österreichs Vizekanzler Michael Spindelegger betonte: «Man kann besonders zwischen befreundeten Ländern nicht einfach jemand anderen abhören, Daten absaugen, verarbeiten, ohne dass es dafür wirklich eine gemeinsame Grundlage gibt.» Schwedens Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt nannte es «natürlich inakzeptabel», wenn Telefongespräche von Regierungschefs abgehört würden.
Kündigung des Swift-Abkommens wird zum Thema
Bereits am Vortag hatte das Europaparlament die Kündigung des Swift-Abkommens gefordert, das den US-Geheimdiensten seit 2010 den gezielten Blick auf Kontobewegungen von Verdächtigen in Europa erlaubt. Auch der in Belgien ansässige Finanzdienstleister Swift, der Überweisungen von Bankkunden weltweit abwickelt, soll im Visier der NSA gewesen sein.
Bürger sollen mehr Rechte an ihren Daten erhalten
Die neuesten Enthüllungen geben auch der Datenschutzreform neuen Schwung, über die die EU seit Anfang 2012 diskutiert. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso verwies auf diese Pläne, die Europas Bürgern mehr Rechte an ihren Daten im Internet – etwa gegenüber US-Konzernen wie Google und Facebook – geben sollen. «Das war lange bevor diese Themen aufkamen», sagte Barroso mit Blick auf den Spähskandal.
EU-Justizkommissarin Viviane Reding forderte, beim EU-Gipfel den Weg für die Datenschutzreform freizumachen. «Wir brauchen jetzt grossen europäischen Datenschutz gegen grosse Lauschohren», sagte Reding der «Bild-Zeitung». Datenschutz müsse für alle gelten. «Egal, ob es um die E-Mails der Bürger oder das Handy von Angela Merkel geht.»
Erinnerungen an die einstige DDR
Barroso unterstrich die Bedeutung des Datenschutzes: «Wir sehen das Recht auf Privatsphäre als ein Grundrecht an. (…) Das ist sehr wichtig, nicht nur für Deutschland.» Er erinnerte an die Erfahrungen mit der Stasi in der damaligen DDR. Der Datenschutz stand bereits in allgemeiner Form auf der Gipfelagenda.
Die EU-Kommission hält die Mobiltelefone der EU-Kommissare für abhörsicher. «Wir haben keinen (…) Zweifel an der Tatsache, dass diese Telefonleitungen vollständig geschützt sind», sagte ein Kommissionssprecher. Im Sommer war bekanntgeworden, dass die NSA die EU als Spionageziel führt und deren Einrichtungen ausspähte.
Frankreichs Staatspräsident François Hollande wollte laut Diplomaten beim Gipfel aus seinem Ärger über NSA-Spähaktivitäten keinen Hehl machen. Nach Medienberichten spionierte die NSA auch Personen aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung in Frankreich aus. (awp/mc/pg)