Recep Tayyip Erdogan, türkischer Staatspräsident.
Istanbul – Das harte Vorgehen der türkischen Staatsführung gegen tatsächliche und vermeintliche Putschisten weckt im Ausland grosse Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit und Stabilität des NATO-Landes. US-Präsident Barack Obama rief alle Parteien in der Türkei zu «gesetzmässigem Handeln» auf.
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel verurteilte den Umsturzversuch mit mindestens 265 Toten «aufs Schärfste», mahnte aber zugleich die Einhaltung demokratischer Werte bei der Verfolgung der Urheber an.
Frankreichs Präsident François Hollande sprach seinerseits von drohenden «Repressionen» in der Türkei. Der französischen Aussenminister Jean-Marc Ayrault sagte, es gebe keinen «Blankoscheck» für Ankara. Auch Bundesrat Didier Burkhalter verurteilte den Putschversuch. Er rief dazu auf, jetzt den Weg der gesellschaftlichen Versöhnung einzuschlagen.
Rund 6000 Festnahmen
Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und die islamisch-konservative Regierung in Ankara griffen am Wochenende bei Militär und Justiz scharf durch. Die Zahl der Festnahmen belief sich nach Regierungsangaben vom Sonntag auf rund 6000 und dürfte sich noch erhöhen, wie Justizminister Bekir Bozdag laut staatlicher Nachrichtenagentur Anadolu sagte.
Unklar blieb am Sonntag, wie viele Festgenommene aus dem Militär stammten und bei wie vielen es sich um Zivilisten handelte. Den Beschuldigten wird vorgeworfen, Anhänger des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülens zu sein.
Unter den Festgenommenen sind rund 2700 Richter und Staatsanwälte. Auch ein Richter am obersten Gerichtshof wurde in Gewahrsam genommen. Unter anderem wurden die Kommandanten der Dritten und Zweiten Armee, Erdal Öztürk und Adem Huduti, festgenommen. Bei einer Razzia auf einem Armeestützpunkt in Denizli wurden Brigadegeneral Özhan Özbakir sowie 51 weitere Soldaten in Gewahrsam genommen, wie Anadolu meldete.
Zu den inhaftierten Soldaten gehört laut Regierungskreisen auch der Kommandant der Luftwaffenbasis Incirlik, General Bekir Ercan Van. Die Luftwaffenbasis wird von den USA im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) genutzt.
Berufung auf Unterstützung der Bevölkerung
Erdogan beruft sich für seinen harten Kurs auf grosse Unterstützung in der Bevölkerung: Nach dem Umsturzversuch gingen am Samstag und Sonntag nach Schätzung aus Regierungskreisen insgesamt rund vier Millionen Menschen in der Türkei aus Protest gegen die Putschisten auf die Strassen.
Erdogan macht Anhänger des Predigers Gülen für den Putschversuch verantwortlich und kündigte am Sonntag ein gnadenloses Vorgehen gegen dessen Anhänger an. «Wir werden das Virus aus allen staatlichen Institutionen vertreiben», sagte Erdogan in Istanbul.
Gülen dementierte jede Verwicklung in den Putschversuch. «Meine Botschaft an das türkische Volk ist, eine militärische Intervention niemals positiv zu sehen», sagte der 75-Jährige am Samstag (Ortszeit) in Saylorsburg (USA) unter anderem der «New York Times». Auf diese Weise könne Demokratie nicht erreicht werden.
Putschisten für Demokratie
Soldaten hatten am Freitagabend in der Hauptstadt Ankara und in Istanbul strategische Punkte unter ihre Kontrolle gebracht. Die Putschisten wollten nach eigenen Angaben Demokratie und Menschenrechte sowie die verfassungsmässige Ordnung in einer zunehmend autoritär regierten Türkei wiederherstellen.
Bei dem Umsturzversuch wurden nach offiziellen Angaben mindestens 290 Menschen – mindestens 190 regierungstreue Sicherheitskräfte oder Zivilisten und 100 Putschisten – getötet, mehr als 1400 wurden verletzt. Unter den Verletzten ist auch ein Schweizer.
Die Regierung erklärte den Putschversuch nach wenigen Stunden für gescheitert. Die Lage sei «vollständig unter Kontrolle», sagte Ministerpräsident Binali Yildirim am Samstagmittag. Die Armee verkündete am Sonntag in Ankara ein formelles Ende des Putschversuchs.
Am zweiten Istanbuler Flughafen kam es am Sonntagabend nach Regierungsangaben zu Zusammenstössen zwischen Sicherheitskräften und Putschisten. Als sich die Aufständischen ihrer Verhaftung widersetzten, feuerten die Sicherheitskräfte Warnschüsse ab. Auch auf dem Luftwaffenstützpunkt im zentralanatolischen Konya gerieten Putschisten und Sicherheitskräfte aneinander. An beiden Orten sei die Lage inzwischen unter Kontrolle.
Amnesty International warnt
Bei einer Rede am Samstagabend vor tausenden Anhängern in Istanbul verlangte Erdogan von Washington die Auslieferung von Gülen. «Dieser Aufstand ist für uns eine Gabe Gottes, denn er liefert uns den Grund, unsere Armee zu säubern», sagte Erdogan am Samstag weiter und brachte die Wiedereinführung der Todesstrafe ins Gespräch. Amnesty International warnte vor Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei.
US-Aussenminister Kerry sagte zu, ein Auslieferungsgesuch der Türkei zu prüfen, wenn sie stichhaltige Beweise gegen Gülen vorlegen könne. Gleichzeitig wies er Behauptungen über eine angebliche Beteiligung der USA an dem Putschversuch zurück. (awp/mc/ps)