Wolfsburg – Volkswagen kann die Abgasaffäre noch lange nicht abhaken: Jetzt ist mit VW-Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch ausgerechnet der oberste Kontrolleur des Konzerns ins Visier der Ermittler geraten. Der frühere Finanzchef steht im Verdacht der Marktmanipulation. Zudem gibt es Vorwürfe, die Tochter Audi habe bei Abgaswerten viel mehr getrickst als bislang bekannt.
Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt nun auch gegen Pötsch, wie Volkswagen am Sonntag mitteilte. Bereits gegen Ex-VW-Boss Martin Winterkorn und den amtierenden VW-Markenchef Herbert Diess läuft ein Ermittlungsverfahren. Gegen die Manager liegt ein Anfangsverdacht vor, die Finanzwelt zu spät über den Abgas-Skandal informiert und so wichtige Informationen für Anleger unterdrückt zu haben.
Bei Pötsch beziehe sich das Ermittlungsverfahren auf die Zeit, als er Finanzvorstand war, teilte VW mit. Man werde die Ermittler «in vollem Umfang unterstützen.» Der Konzern sei aber weiter der Auffassung, dass der Vorstand den Kapitalmarkt ordnungsgemäss informiert habe.
Warum erst jetzt gegen Pötsch ermittelt wird, blieb zunächst unklar. Als damaliger Finanzchef war er massgeblich für die Kommunikation mit den Anlegern zuständig. Aktionärsvertreter begrüssten die Entwicklung. «Es ist erstaunlich, dass die Staatsanwaltschaft nicht schon viel früher Ermittlungen eingeleitet hat», sagte Jürgen Kurz, Sprecher der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz, dem «Tagesspiegel».
Die VW-Eigentümerfamilien liessen wissen: «Die Familien Porsche und Piëch stehen uneingeschränkt hinter Herrn Pötsch.» Niedersachsens Ministerpräsident und VW-Aufsichtsrat Stephan Weil warnte vor voreiligen Schlüssen: «Der endgültige Abschluss der Ermittlungen bleibt abzuwarten, vorschnelle Schlussfolgerungen verbieten sich.»
Tausende von Klagen
Zahlreiche Anleger verlangen vor Gericht einen Ausgleich für die hohen Verluste, die sie im Zuge der Affäre mit VW-Aktien erlitten haben. Zuletzt lagen am Landgericht Braunschweig 1400 Klagen von Aktionären vor. Insgesamt fordern sie etwa 8,2 Milliarden Euro.
Unterdessen berichtete die «Bild am Sonntag», die VW-Tochter Audi sei stärker in den Abgasskandal verstrickt als bislang bekannt. Demnach hat die kalifornische Umweltbehörde Carb im Sommer dieses Jahres eine weitere illegale Softwarefunktion bei einem Audi mit V6-Motor entdeckt. Diese habe Audi auch für die Manipulation von CO2-Werten für Diesel und Benziner in Europa verwendet. Bei der Carb war am Wochenende zunächst keine Stellungnahme zu erhalten.
Dem Bericht zufolge konnten bestimmte Audi-Modelle an den Bewegungen des Lenkrads unterscheiden, ob sie auf einem Rollenprüfstand oder auf der Strasse sind. Entsprechend sei weniger oder mehr Benzin verbraucht und CO2 ausgestossen worden. Der Einsatz einer illegalen Software auch zur Täuschung bei CO2-Werten wäre eine neue Dimension. Weder Volkswagen noch Audi wollten den Bericht am Sonntag kommentieren.
Die «Bild am Sonntag» berichtete, Audi habe die Prüfstanderkennung jahrelang eingesetzt. In vertraulichen Firmendokumenten heisse es: «Schaltprogramm soll so ausgelegt werden, dass es auf der Rolle zu 100% aktiv ist, vor Kunde aber nur in 0,01%.» Audi habe den Einsatz im Mai 2016 gestoppt. Mehrere Techniker seien suspendiert worden.
Audi in USA unter Druck
In den USA steht Audi wegen rund 85’000 Dieselautos mit illegaler Abgastechnik unter Druck. Bei den Modellen, die mit 3,0-Liter-Motoren der VW-Tochter unterwegs sind, steht ein Kompromiss mit den Behörden zu einer Absenkung der Stickoxidwerte noch aus. Es geht um teure Wagen wie Porsche Cayenne, VW Touareg und etliche Audi-Luxusmodelle.
Bei rund 475’000 kleineren Dieselwagen hat sich VW mit Besitzern und Behörden in den USA bereits auf einen milliardenschweren Vergleich geeinigt. In Europa sträubt sich der Konzern gegen vergleichbare Angebote. Da hierzulande keine Sammelklagen zugelassen sind, ziehen seit Monaten einzelne Autobesitzer vor Gerichte. Bislang hat zumeist VW gewonnen, in anderen Fällen hat der Konzern Berufung angekündigt.
Gesetzesverstösse innerhalb der EU streitet VW dabei ab. «Die in Fahrzeugen mit einem EA 189-Motor enthaltene Software stellt nach Auffassung von Volkswagen keine unzulässige Abschalteinrichtung nach europäischem Recht dar», sagte ein VW-Sprecher. Dieser Darstellung widerspricht das Bundesverkehrsministerium. «Wir teilen die Auffassung von VW nicht», sagte ein Sprecher der «Welt». Das Ministerium spricht seit Monaten von einer unzulässigen Abschalteinrichtung bei VW. Auch bei der EU-Kommission stiess Volkswagens juristische Interpretation auf Unverständnis. (awp/mc/ps)