EU-Ratspräsident Donald Tusk.
Brüssel – Knapp eine Woche nach Grossbritanniens Brexit-Votum demonstrieren die übrigen EU-Staats- und Regierungschefs Einigkeit – allerdings ohne klare Zukunftsentscheidungen. «Sie sind entschlossen, zu 27 gemeinsam und vereint zu bleiben», sagte EU-Gipfelchef Donald Tusk nach einem informellen Spitzentreffen ohne Grossbritanniens Premier David Cameron am Mittwoch in Brüssel. Sowohl die Zukunft der EU als auch ihre künftigen Beziehungen zum Vereinigten Königreich bleiben nach der erstmaligen Zusammenkunft im neuen Format jedoch offen. Eine grundlegende Reform der EU zeichnet sich nicht ab. Kleinster gemeinsamer Nenner der 27 ist die Wut auf Cameron, der die grösste Krise der EU-Geschichte ausgelöst hat.
Am vergangenen Donnerstag hatten in einem von ihm angesetzten Referendum rund 52 Prozent der britischen Wähler für einen EU-Austritt gestimmt. Zustimmung dafür gab es vor allem in England und Wales. In Nordirland und vor allem Schottland sprach sich die Mehrheit hingegen für einen Verbleib in dem Staatenbund aus. Das britische Pfund stürzte nach dem Ergebnis auf den niedrigsten Stand seit Jahrzehnten. Cameron kündigte seinen Rücktritt an.
Der drohende Brexit löste unter den EU-Chefs beim zweitägigen Gipfel eine breite Debatte darüber aus, wie die vielerorts unpopuläre Europäische Union künftig besser gestaltet werden kann. Sie sprachen sich für eine Reform der EU ohne komplizierte Vertragsänderungen aus. «Wir würden wirkliche das Falsche tun, wenn wir wieder eine Vertragsdiskussion beginnen würden», sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Konvent
Im zurückliegenden Jahrzehnt hatte ein Konvent die EU-Verfassung erarbeitet, die aber wegen gescheiterter Referenden in den Niederlanden und Frankreich letztlich scheiterte. Der daraufhin erarbeitete Vertrag von Lissabon legt in erster Linie die Rechtsvorschriften in der EU fest. Er biete ein grosses Mass an Flexibilität, um auf die aktuellen Herausforderungen zu reagieren, argumentierte Merkel weiter.
Belgiens Premier Charles Michel forderte: «Eine Gruppe von Ländern, die schneller vorangehen will, muss die Möglichkeit haben, dies zu tun, ohne von anderen gehindert zu werden.» Der EU-Vertrag gibt bereits die Möglichkeit dazu: Für ein bestimmtes Vorhaben – wie beispielsweise die europäische Finanzsteuer – reicht die Unterstützung von neun Staaten. Bisher wird das Verfahren aber selten genutzt.
Bereits am Vorabend hatten die Chefs mit Cameron über das Brexit-Votum gesprochen. Sie machten erneut klar, dass die EU vor einem offiziellen Austrittsgesuch Grossbritanniens keine Verhandlungen über die Trennungsmodalitäten oder künftige Beziehungen führen will.
Enge Partnerschaft
Die 27 EU-Spitzen wünschten sich, künftig eine enge Partnerschaft mit dem Vereinigten Königreich zu haben, wie es in einer gemeinsamen Erklärung hiess. In einem künftigen Abkommen zwischen der EU und Grossbritannien müssten jedoch Rechte und Pflichten ausgewogen berücksichtigt werden. Für den Zugang zum EU-Binnenmarkt müssten alle seiner Grundprinzipien respektiert werden, darunter die Personenfreizügigkeit. «Einen Binnenmarkt à la carte wird es nicht geben», sagte Tusk.
Am 16. September ist nun ein erneutes Gipfeltreffen der Chefs geplant – wieder ohne Grossbritannien. Laut Diplomaten wird von Cameron erwartet, spätestens bis dann Klarheit über den britischen Austrittskurs zu schaffen. Bisher spielt die Regierung in London auf Zeit und lässt offen, wann sie das EU-Austrittsverfahren anschieben will. Zudem hofft Cameron weiterhin auf informelle Gespräche über Grossbritanniens künftige Beziehung zur EU, wie er am Mittwoch im britischen Parlament verdeutlichte.
Währenddessen zeigte das Brexit-Votum weitere Auswirkungen. Der Mobilfunk-Riese Vodafone spielte offen mit dem Gedanken, seinen Hauptsitz aufs europäische Festland zu verlegen. «Die Mitgliedschaft Grossbritanniens in der EU war ein wichtiger Faktor für das Wachstum eines Unternehmens wie Vodafone», hiess es in einer Mitteilung.
Schottland verschafft sich Gehör
Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon traf in Brüssel mit Europaparlamentspräsident Martin Schulz (SPD) zusammen, um über die Folgen des Brexit-Votums zu beraten. Nachdem sich in Schottland eine grosse Mehrheit für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU ausgesprochen hatte, war von ihr eine Trennung Schottlands von Grossbritannien ins Gespräch gebracht worden, mit dem Ziel des Verbleibs in der EU. «Schottland hat sich das Recht erworben, in Brüssel gehört zu werden», sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dazu. (awp/mc/pg)