EU-Energiekommissar Günther Oettinger.
Brüssel / Berlin – In der EU ist die Debatte über die Stellung der Atomkraft neu entbrannt. Im Gegensatz zu Deutschland wollen mehrere EU-Staaten die Nuklearenergie mit erneuerbaren Energien gleichstellen und subventionsfähig machen. Über entsprechende Vorstösse einiger Länder werden die EU-Minister bei ihrem Treffen Ende nächster Woche in Dänemark diskutieren, wie ein Sprecher der EU-Kommission am Freitag in Brüssel sagte. Dabei gehe es um die Frage, ob Nuklearenergie auf EU-Ebene – ebenso wie erneuerbare Energien – als klimafreundlich eingestuft werden könnte. Staatliche Unterstützung würde leichter.
Nach Informationen der «Süddeutschen Zeitung» haben die vier Länder Frankreich, Grossbritannien, Polen und Tschechien entsprechende Schreiben nach Brüssel geschickt. Ihr Ziel sei es, Atomkraftwerke künftig wie Solaranlagen oder Windräder als emissionsarme Technologien einzustufen. Falls sie sich durchsetzten, könnte der Bau neuer AKWs, aber auch der Verkauf von Atomstrom gefördert werden. Frankreich bestritt den Vorstoss: «Es gibt keine französische Initiative in diesem Sinne», sagte in Paris ein Sprecher des Industrieministeriums nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP.
EU will Energie-Binnenmarkt bis 2014 vollenden
EU-Energiekommissar Günther Oettinger sieht die Forderung skeptisch. «Einer Förderung anderer Energiequellen, auch Atomkraft, stehe ich zurückhaltend gegenüber», sagte Oettinger in einer Stellungnahme am Freitag in Brüssel. Ihm liege kein Brief oder Antrag eines Mitgliedslandes vor, das Atomkraft subventionieren wolle. Die EU werde bis 2014 den Energie-Binnenmarkt vollenden – und auch für erneuerbare Energien die öffentliche Förderung schrittweise reduzieren. Der deutsche Kommissar kündigte dazu zwei Strategiepapiere für die kommenden Monate an: «Sicherheit – und nicht die finanzielle Förderung von Atomkraft – hat für uns oberste Priorität.»
In der Debatte geht es nach Angaben von EU-Diplomaten um Subventionen der Mitgliedsländer, aber auch der EU selbst. Bislang können Staaten den Bau von Atomkraftwerken fördern, müssen dabei aber die allgemeinen EU-Regeln einhalten. «Die staatliche Beihilfe darf den Wettbewerb nicht verzerren und muss im öffentlichen Interesse liegen», sagte der Sprecher von EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia. Es gebe keine besonderen Regeln für solche Finanzspritzen im Atomsektor – im Gegensatz zu erneuerbaren Energien, bei denen Staaten leichter Geld zuschiessen könnten.
Kein Geld für neue AKW aus Brüssel
Aus Brüssel fliesst bislang kein Geld für den Neubau von AKW. «Die EU-Kommission finanziert den Bau von Nuklearanlagen derzeit nicht – auch nicht teilweise», sagte ein anderer Kommissionssprecher. «Wie das in Zukunft sein wird, hängt von den Ergebnissen der Debatte ab. Das werden uns die Mitgliedsstaaten sagen.»
In Europa ist es Sache jedes einzelnen Staates, über die Nutzung von Energieträgern wie Kohle, Öl, Gas, Wind oder Atomkraft zu entscheiden. Auch der Energiemix ist nationale Angelegenheit. Während Frankreich einen grossen Teil seines Stroms aus Atomkraft gewinnt, hat Deutschland 2011 nach dem Atomunfall in Fukushima den Ausstieg aus der Atomkraft beschlossen. Tschechien möchte das umstrittene AKW Temelín nahe der bayerischen Grenze ausbauen, Polen prüft geeignete Standorte für Kraftwerke.
Energiefahrplan 2050
Derzeit läuft die Debatte um die zukünftige EU-Energiepolitik, den sogenannten Energiefahrplan 2050. Die EU-Kommission hat darin Modelle vorgelegt. Atomkraft soll nach den Plänen wichtig bleiben. Bis 2050 will die EU-Kommission den Ausstoss des Klimakillers CO2 um 80 bis 95 Prozent im Vergleich mit 1990 verringern.
Laut dem deutschen Bundesumweltministerium wollen die EU-Staaten bei dem Ministertreffen am 15. Juni ein Papier verabschieden. Was darin stehe, werde «richtungsweisend» für die zukünftige Energiepolitik sein, schrieb das Ministerium. Für den Beschluss sei grundsätzlich Einstimmigkeit nötig, Enthaltungen würden die Annahme nicht behindern. Aussenminister Guido Westerwelle und der deutsche EU-Energiekommissar Günther Oettinger warnten in einem Gastbeitrag für die «Stuttgarter Zeitung» (Samstag) vor nationalen Alleingängen in der Energiepolitik. Für zentrale Fragen der Energieversorgung seien gemeinsame europäische Lösungen notwendig. Dies gelte sowohl für die Infrastruktur als auch für den Import und die effiziente Nutzung von Energie.
«Absurdistan in Reinkultur»
Aus Deutschland gab es heftige Kritik von Umweltverbänden, Grünen und FDP. Der Vorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Hubert Weiger, sagte: «Ein Jahr nach Fukushima Milliardensubventionen für die Risikotechnologie Atomkraft zu fordern, ist Absurdistan in Reinkultur.» Der Bundesverband für Wirtschaftsförderung und Aussenwirtschaft (BWA) sprach von einer «Bankrotterklärung für die Energiewende in Deutschland», falls es EU-Subventionen für Kernkraft geben würde: «Atomstrom ist keine nachhaltige Lösung für die Energieversorgung in Europa.»
Greenpeace-Atomexperte Tobias Münchmeyer kritisierte das Verhalten von Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU): «Während Röttgen sich nur noch um seinen Wahlkampf kümmert, wird in Brüssel die Zukunft der Erneuerbaren kaputtgemacht.»
Aus dem Bundestag kamen ebenfalls kritische Stimmen: «Atomstrom zu subventionieren widerspricht allem, was in Deutschland beschlossen wurde», sagte der stellvertretende Vorsitzende des Umweltausschusses im Bundestag, Horst Meierhofer (FDP). Auch aus den Reihen der Opposition erntete der Vorstoss Kritik: «Deutschland muss sich dieser Forderung in den Weg stellen», sagte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Bundestagsgrünen, Bärbel Höhn, der Tageszeitung «Die Welt» (Samstag). (awp/mc/ps)