Brüssel / Kiew – Während die russische Armee mit immer neuen Luftangriffen die zivile Infrastruktur der Ukraine zerstört, denkt die EU darüber nach, woher die Milliarden für einen Wiederaufbau kommen könnten. Ins Visier geraten dabei rund 300 Milliarden Euro an eingefrorenen russischen Zentralbank-Reserven. Die Freigabe dieser Mittel könnte von einem Friedensabkommen abhängig gemacht werden, das auch russische Reparationszahlungen umfassen würde, erklärten EU-Beamte am Mittwoch.
Ein Ende des russischen Angriffskrieges ist jedoch auch nach mehr als neun Monaten nicht in Sicht. Die Verluste auf beiden Seiten steigen täglich. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach sogar von 100 000 angeblich getöteten ukrainischen Soldaten. Diese Aussage sorgte in Kiew für Irritationen und wurde kurz darauf korrigiert.
Selenskyj wird im «richtigen Moment» ukrainische Opferzahl nennen
Gegenüber dem ukrainischen öffentlich-rechtlichen Fernsehen hob der ukrainische Präsidentensprecher Serhij Nykyforow hervor, dass nur der Oberkommandierende der Streitkräfte, der Verteidigungsminister oder der Präsident belastbare Zahlen über Verluste veröffentlichen können. Präsident Wolodymyr Selenskyj werde offizielle Daten publik machen, «wenn der richtige Moment» gekommen sei, da das eine sensible Information sei. Kiew habe bereits in Brüssel angefragt, woher von der Leyen ihre Informationen habe, sagte Nykyforow. Zuvor hatte eine beim Kurznachrichtendienst Twitter veröffentlichte und inzwischen gelöschte Ansprache von der Leyens für Aufregung gesorgt. Dabei sprach sie von angeblich über 100 000 getöteten ukrainischen Soldaten. Die Ukraine wehrt seit Ende Februar eine russische Invasion ab. Angaben zu eigenen Verlusten machen beide Seiten selten.
Blinken: Russlands Angriffe auf ukrainisches Energienetz «barbarisch»
US-Aussenminister Antony Blinken verurteilte die russischen Angriffe auf das Energienetz in der Ukraine als «barbarisch». «In den vergangenen Wochen hat Russland mehr als ein Drittel des ukrainischen Energiesystems lahmgelegt und Millionen von Menschen bei eisigen Temperaturen in Kälte und Dunkelheit gestürzt», sagte er am Rande eines Nato-Treffens in der rumänischen Hauptstadt Bukarest. «Wärme, Wasser, Strom für Kinder, für alte Menschen, für Kranke – das sind die neuen Ziele von Präsident Putin. Er trifft sie hart.» Das Vorgehen sei «barbarisch».
EU will Reparationsplan mit Partnern abstimmen
Nach dem Willen der EU-Kommission sollen auch Erlöse aus eingefrorenen russischen Vermögenswerten für den Wiederaufbau in der Ukraine genutzt werden können. Kurzfristig könne eine Struktur geschaffen werden, um durch Sanktionen blockierte Mittel zu verwalten und zu investieren, erklärte von der Leyen. Fortschritte gibt es nach Angaben aus der EU-Kommission auch bei der Rechtsgrundlage für die Enteignung russischer Oligarchen. In welchem Mass die eingefrorenen Vermögenswerte dieser Oligarchen im Wert von knapp 19 Milliarden Euro davon betroffen sein könnten, blieb unklar. Die Regelung soll nicht rückwirkend gelten. Die Vorschläge sollen mit den EU-Staaten sowie internationalen Partnern abgestimmt werden. «Der Schaden der Ukraine wird auf 600 Milliarden Euro geschätzt», sagte von der Leyen.
Reichster Russe Mordaschow beklagt hohe Verluste nach Sanktionen
Milliardär Alexej Mordaschow, vor dem Krieg der reichste Mann Russlands, hat sich über hohe Verluste durch die westlichen Sanktionen beklagt. «Wir bei Severstal haben etwas mehr als 400 Millionen Dollar (400 Millionen Euro) verloren – die sind in Europa hängengeblieben, wurden als Waren- und Geldreserven beschlagnahmt», sagte der 57-Jährige am Mittwoch der Nachrichtenagentur Interfax zufolge. Es sei derzeit sehr schwer, Exporteinnahmen ins Land zurückzuführen, klagte er zugleich.
Ex-General Petraeus: Ukraine-Krieg wird mit Verhandlungslösung enden
Voraussetzung für den Reparationsplan der EU ist ein Friedensvertrag. Nach Meinung des früheren US-Viersternegenerals und einstigen CIA-Chefs David Petraeus wird der Krieg mit einer Verhandlungslösung enden. Einen militärischen Sieger werde es nicht geben, sagte Petraeus dem «Tagesspiegel» (Mittwoch). Aktuell seien allerdings weder der russische Präsident Wladimir Putin noch Selenskyj bereit, Verhandlungen aufzunehmen. (awp/mc/pg)