Europa verliert mit Krisenland Belgien die Geduld

Europa verliert mit Krisenland Belgien die Geduld

Elio Di Rupo, designierter belgischer Premierminister.

Brüssel – Für Belgien beginnt mal wieder eine Woche der Entscheidung. Der designierte Premierminister Elio Di Rupo will am Dienstag sieben anderen Parteichefs ein ergänztes Kompromisspapier zur Bildung einer Koalition vorlegen. Es geht ums Ganze. Falls Di Rupo, ein frankophoner Sozialist, mit dem Vorhaben scheitern sollte, dürften nach Ansicht von politischen Beobachtern Neuwahlen unvermeidlich sein.

Und das Königreich im Herzen Europas, seit den Wahlen vom Juni vergangenen Jahres ohne gewählte Regierung, würde noch tiefer in die Krise stürzen. Bisher hat König Albert II. alles versucht, um dieses Katastrophenszenario zu verhindern. Hinter den Kulissen steigt die Nervosität. Denn Brüssel ist nicht nur Sitz der belgischen Regierung, sondern auch wichtiger EU-Institutionen. Und deren Geduld ist schwer strapaziert. Vielleicht auch deshalb, weil Belgien im Kleinen vorlebt, was Europa in der Eurokrise beschäftigt: Der reiche Norden – in Belgien ist dies Flandern – will nicht mehr für den armen Süden – bei den Belgiern die Wallonie – aufkommen.

Juncker warnt vor «Unordnung in der Eurozone»
Jean-Claude Juncker, Chef der mächtigen Euro-Finanzminister, warnt das Land offen davor, für «Unordnung in der Eurozone» sorgen. «Es muss in Belgien, wie anderswo auch, Strukturreformen geben. Und ich frage mich, wie eine geschäftsführende Regierung solche Entscheidungen treffen kann», sagte der luxemburgische Premier unlängst der belgischen Tageszeitung «Le Soir». Das Land wird derzeit von dem amtierenden christdemokratischen Premier Yves Leterme und seiner Ministerriege geführt.

De Wever spielt auf Zeit
Die Blicke richten sich nun vor allem auf Wouter Beke, den Chef der flämischen Christdemokraten (CD&V). Die Partei, die in den vergangenen Jahren viele Regierungschefs stellte, wandte sich von den flämischen Nationalisten (N-VA) ab und liess sich auf Verhandlungen mit den anderen Parteien aus dem Norden und Süden des Landes ein. Der Chef der N-VA, Bart De Wever, sitzt nicht mit am Tisch, spielt unterdessen auf Zeit und setzt Beke offen unter Druck. Mit Blick auf die Verhandlungen meint der Nationalistenchef: «Je schlechter es geht, desto besser ist es für meine Partei», sagte er in einem Interview laut Tageszeitung «Het Laatste Nieuws» (vom Montag). De Wevers N-VA, die unverhohlen für ein Ende des belgischen Staates eintritt, hat 27 Sitze im neuen Parlament – mehr als jede andere Partei.

Politisches Klima vergiftet
Gerade die flämischen Christdemokraten pochen darauf, dass vor einer Regierungsbildung die Institutionen des Landes reformiert werden. Dazu gehört ein heikles Thema, das für Aussenstehende kaum zu verstehen ist und seit Jahren das politische Klima im Land vergiftet: Die Neuordnung des Gerichts- und Wahlkreises Brüssel und Umland. Es geht dabei im Kern um die Rechte von Französisch sprechenden Bürgern, die im flämischen – und damit offiziell Niederländischsprachigen – Umland der Kapitale leben. Weitere Themen der Verhandlungen sind die grössere Autonomie der auseinanderstrebenden Regionen und deren Finanzierung.

Belgier bleiben gelassen
Die Belgier nehmen die Wirren der Staatsreform und der Regierungsbildung erstaunlich gelassen hin – Proteste gegen den politischen Stillstand sind ausgesprochen selten. Das Land muss zwar für seine langfristigen Staatsanleihen eine erhöhte Risikoprämie bezahlen, ist aber noch lange nicht auf dem Niveau Spaniens oder Italiens angelangt. Und die Wirtschaft läuft besser als in vielen anderen Euroländern – und ist nicht rezessionsgefährdet. 0,7 Prozent Wachstum lautete das Resultat im zweiten Quartal – gegenüber 0,1 Prozent in Deutschland und 0,0 Prozent in Frankreich. (awp/mc/ps)

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