Zürich – Die jüngsten Verwerfungen an den internationalen Finanzplätzen im laufenden Jahr haben Billionenwerte vernichtet: Die Marktkapitalisierung der 100 teuersten Unternehmen der Welt – also der Wert der an der Börse gehandelten Aktien der Unternehmen – sank im Verlauf des ersten Halbjahres 2022 um 17 Prozent beziehungsweise USD 6,1 Billionen. In der Gruppe der teuersten 300 Unternehmen der Welt wurde sogar ein Rückgang um 20 Prozent verzeichnet. Besonders betroffen waren Technologiekonzerne, deren Börsenwert insgesamt um 28 Prozent einbrach.
Die einzige Branche, die gegen den Trend zulegen konnte, ist der Energiesektor: Die Öl- und Gasunternehmen, die sich unter den Top 100 platzieren konnten, steigerten ihren Börsenwert um 19 Prozent. Der Erdölkonzern Saudi Aramco ist mit einem Börsenwert von 2,3 Billionen US-Dollar das zweitteuerste Unternehmen der Welt – knapp hinter Apple.
Dominanz der US-Konzerne – Schweiz mit drei Unternehmen in den Top 100
An der Dominanz der US-Konzerne an den Weltbörsen hat sich insgesamt wenig geändert. Die Zahl der US-amerikanischen Unternehmen, die sich zur Jahresmitte unter den 100 wertvollsten Unternehmen der Welt platzieren können, liegt bei 60. Die Schweiz belegt hinter den USA, China/Hongkong und Saudi-Arabien den vierten Platz bezogen auf den kumulierten Wert der Börsenkapitalisierung der Unternehmen in den Top100. Der Nahrungsmittelkonzern Nestlé ist auf Rang 20 mit rund USD 322 Mrd. Börsenwert im Juni 2022 das wertvollste europäische Unternehmen. Ende 2021 wies das Unternehmen mit Sitz in Vevey noch eine Kapitalisierung von USD 384 Mrd. aus.
Mit Roche (Rang 30) und Novartis (Rang 50) ist die Schweiz mit zwei weiteren Unternehmen in den Top100 vertreten. Während die Schweizer Unternehmen der Pharma- und Lebensmittelbranchen – und somit der klassischen Industrien angehören – repräsentieren fünf der zehn wertvollsten Unternehmen digitale Geschäftsmodelle, darunter Marken wie Microsoft, die Google-Muttergesellschaft Alphabet, Amazon und Meta Platforms.
«Obwohl die Schweiz sehr fortschrittlich und liberal ist bezüglich innovativer und digitaler Businessmodellen, hat die Schweiz noch kein ganz grosses Unternehmen in dem Bereich hervorgebracht», sagt Stefan Rösch-Rütsche, Country Managing Partner von EY Schweiz. Die Schweiz ist jedoch beliebter Standort sowohl der grossen Tech-Konzerne wie auch eines wachsenden Fintech-Eco-Systems.
Europa verliert an den Weltbörsen an Boden
Vor der Finanzkrise – Ende 2007 – kamen noch 46 der 100 wertvollsten Unternehmen der Welt aus Europa. Inzwischen sind es nur noch 16. Die Bedeutung Europas an den Weltbörsen schrumpft und die Gewichte verschieben sich weiter in Richtung USA. Auch Chinas Bedeutung ist zuletzt wieder gestiegen – die Zahl der chinesischen Konzerne unter den Top 100 kletterte seit Jahresbeginn von zehn auf 16. Die Rahmenbedingungen für Europäische Unternehmen haben sich eingetrübt. Die aktuelle konjunkturelle und politische Lage, gepaart mit einer drohenden Energiekrise, schreckt Investoren ab. «Internationale Investoren trauen Unternehmen aus anderen Regionen vielfach bessere Wachstumsperspektiven und ein stärkeres Risikoprofil zu», erklärt Stefan Rösch-Rütsche.
Dass praktisch alle Branchen bezüglich deren Börsenkapitalisierung Federn lassen mussten, ist offensichtlich. «Die grossen politischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten und Irritationen der letzten Monate haben die Kurse an den internationalen Kapitalmärkten einbrechen lassen und zu der aktuell tiefgreifenden Verunsicherung geführt», sagt Stefan Rösch-Rütsche. Trotz sinkender Börsenkapitalisierung weisen viele der Top-Konzerne nach wie vor hohe Gewinne aus. Speziell die Öl- und Gasunternehmen konnten von den stark gestiegenen Energiepreisen profitieren und verzeichneten steigende Aktienkurse.
Technologie-Werte unter Druck
Angesichts der Zinswende gerieten zuletzt vor allem hoch bewertete Wachstumsunternehmen unter Druck – die lange favorisierten Technologieunternehmen mussten teils massive Kurseinbrüche hinnehmen, nachdem sie infolge der Pandemie zuvor erhebliche Wertzuwächse verzeichnet hatten. Die Zahl der Tech-Konzerne im Top-100-Ranking ist seit Jahresbeginn von 27 auf 23 gesunken.
Laut Stefan Rösch-Rütsche habe sich vor allem die Erwartungshaltung von Investoren geändert. Nun sitze das Geld nicht mehr so locker, die Erwartungen und Anforderungen der Investoren an ein Unternehmen und ihre Finanzkennzahlen seien gestiegen. Rösch-Rütsche sieht jedoch auch positive Trends für das kommende Jahr: «Die Digitalisierung, die während der Pandemie über alle Branchen hinweg nochmals einen kräftigen Schub erlebt hat, bleibt ein wichtiger Treiber der Wirtschaft und der Börsen in den kommenden Jahren.» Selbstredend, dass die Technologieunternehmen weiter eine dominierende Rolle spielen werden.
Energieunternehmen erleben Renaissance an den Börsen
Bis vor Kurzem schien es, als sei die grosse Zeit der Ölmultis an den Weltbörsen vorbei. So waren Ende 2011 noch vier Ölkonzerne unter den Top 10 weltweit, das teuerste Unternehmen der Welt war damals Exxon. Seitdem hatten sich die Gewichte massiv zugunsten von Technologieunternehmen verschoben. Die Zahl der Energiekonzerne, die sich unter den Top 100 platzieren konnten, sank binnen zehn Jahren von 20 (Ende 2011) auf fünf (Ende 2021) – um im ersten Halbjahr dieses Jahres wieder auf neun zu steigen.
Die in Europa sicher geglaubte Energieversorgung ist durch den Krieg in der Ukraine und die daraus entstandenen Verwerfungen auf den Energiemärkten ins Wanken geraten. «Ein drohender Gasmangel entpuppt sich als ernsthafte Bedrohung für viele grosse Volkswirtschaften, wobei die Schweiz etwas weniger vom Gas abhängig ist als andere Länder Europas». Die Preise für Öl, Gas und Strom dürften aufgrund dieser Einflussfaktoren auf absehbare Zeit hoch bleiben. (awp/mc/pg)