Kiew – Vor dem Treffen der Aussenminister aus der Ukraine und Russland sind am Mittwoch weitere Zivilisten aus den von russischen Truppen belagerten Städten in der Ukraine evakuiert worden. Die Rettung der verzweifelten Menschen kommt jedoch nur langsam voran, vielerorts wurde von neuen Zwischenfällen berichtet. Allein in der Hafenstadt Mariupol sitzen Hunderttausende unter katastrophalen Bedingungen fest, nach Angaben der russischen Separatisten im Gebiet Donezk funktioniert der vereinbarte «humanitäre Korridor» immer noch nicht. Vor dem Treffen der Kriegsgegner in der Türkei lotete die Ukraine zugleich mögliche Kompromisslinien aus.
An diesem Donnerstag wollen der russische Aussenminister Sergej Lawrow und sein ukrainischer Kollege Dmytro Kuleba zu Gesprächen im türkischen Antalya zusammenkommen – es wäre das ranghöchste Gespräch seit Kriegsbeginn. Kuleba betonte aber am Mittwoch, dass seine Erwartungen an das Gespräch gering seien. Als Bedingung für eine Einstellung der Gefechte fordert Russland, dass sich die Ukraine in ihrer Verfassung für neutral erklärt. Zudem müsse Kiew die annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim als russisch sowie die Separatistengebiete als unabhängig anerkennen. Die Ukraine lehnt das bisher in weiten Teilen ab, Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich aber gesprächsbereit gezeigt.
Russland hat die Ukraine vor zwei Wochen, am 24. Februar, angegriffen. Hunderttausende Menschen sind seit Beginn der Invasion auf der Flucht.
Rettung aus umkämpften Städten
Die militärischen Fronten schienen am Mittwoch weitgehend statisch. Nach ukrainischen Angaben gab es wieder Angriffe auf mehrere Städte und dabei Tote und viele Verletzte. Die Evakuierungen der Zivilbevölkerung aus den umkämpften Städten sind inzwischen angelaufen. Ukrainische Medien veröffentlichten Bilder aus Irpin bei Kiew, die zeigten, wie alte und kranke Menschen auf Tragen in Sicherheit gebracht wurden. In der Stadt Sumy im Nordosten des Landes trafen am Mittwochmittag Busse ein. Nach Angaben des Vizechefs des Präsidentenbüros, Kyrylo Tymoschenko, fuhren im südukrainischen Enerhodar sowie in Isjum nahe Charkiw im Nordosten die ersten Fahrzeuge mit Zivilisten ab.
In der Hafenstadt Mariupol funktioniert nach Angaben der Separatisten im Gebiet Donezk der vereinbarte «humanitäre Korridor» weiterhin nicht. «Die Menschen verlassen Mariupol so schnell wie möglich aus eigener Kraft», sagte der Sprecher der prorussischen Kräfte, Eduard Bassurin, im russischen Staatsfernsehen. Die Ukraine gab den Angreifern die Schuld. Aussenminister Dmytro Kuleba schrieb bei Twitter: «Russland hält weiterhin mehr als 400’000 Menschen in Mariupol als Geiseln, blockiert humanitäre Hilfe und Evakuierung.» Um die Evakuierung von Mariupol wird seit Tagen gerungen. Seit Sonntag sind mehrere Anläufe gescheitert.
Sanktionen werden erweitert
Die EU-Staaten haben sich angesichts des anhaltenden Kriegs auf eine erneute Ausweitung der Sanktionen gegen Russland und dessen Partnerland Belarus verständigt. Wie die EU-Kommission am Mittwoch in Brüssel mitteilte, werden 14 weitere russische Oligarchen und prominente Geschäftsleute auf die Liste derjenigen Personen kommen, deren Vermögenswerte in der EU eingefroren werden und die nicht mehr einreisen dürfen. Zudem sind ein Verbot für die Ausfuhr von Schifffahrtsausrüstung sowie der Ausschluss dreier belarussischer Banken aus dem Kommunikationsnetzwerk Swift vorgesehen.
Auf den von der Ukraine geforderten Stopp von Energieimporten aus Russland konnten sich die EU-Staaten auch nach einem entsprechenden Beschluss der USA weiter nicht verständigen.
Kein Boykott russischer Energie
Die Bundesregierung sieht weiter keine Möglichkeit für einen sofortigen Boykott russischer Energielieferungen nach dem Vorbild der USA. Die USA seien Exporteur von Gas und Öl, was man für Europa insgesamt nicht sagen könne, betonte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Mittwoch in Berlin in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Kanadas Premierminister Justin Trudeau. «Und deshalb sind die Dinge, die getan werden können, auch unterschiedlich.» Die Spritpreise in Deutschland stiegen am Mittwoch weiter kräftig an.
Die USA haben als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine am Dienstag ein Importverbot für Öl aus Russland erlassen. Grossbritannien will seine Ölimporte aus Russland zuerst bis Jahresende senken und dann kein Öl mehr von dort importieren.
Kremlsprecher Dmitri Peskow warf den USA vor, sie führten einen Wirtschaftskrieg gegen Russland. Er betonte, dass Russland ein zuverlässiger Öl- und Gaslieferant sei, drohte aber gleichzeitig mit Einschränkungen. «Feindselige Exzesse des Westens» machten «die Situation sehr kompliziert und lassen uns intensiv darüber nachdenken», sagte Peskow mit Blick auf die massiven Sanktionen gegen Russland. Zuvor hatte bereits Vize-Regierungschef Alexander Nowak offen mit einem Gas-Lieferstopp durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 gedroht.
Streit um Kampfjets für die Ukraine
Der Vorschlag des polnischen Aussenministeriums, der Ukraine Kampfflugzeuge zu überlassen, ist bei Bundeskanzler Scholz auf Ablehnung gestossen. Er verwies am Mittwoch in Berlin auf Finanzhilfen, humanitäre Unterstützung und die Lieferung einzelner Waffensysteme. «Und ansonsten ist es aber so, dass wir sehr genau überlegen müssen, was wir konkret tun. Und dazu gehören ganz sicherlich keine Kampfflugzeuge», sagte Scholz.
Das polnische Aussenministerium hatte am Dienstagabend einen Plan zur indirekten Überlassung von Kampfflugzeugen an die Ukraine vorgestellt: Die Regierung in Warschau sei bereit, Jets vom Typ MiG-29 auf den US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Rheinland-Pfalz zu verlegen und sie den USA zur Verfügung zu stellen. Das US-Verteidigungsministerium bezeichnete den Vorschlag umgehend als «nicht haltbar» und verwies unter anderem auf die geopolitischen Bedenken, wenn Kampfjets von einem US- beziehungsweise Nato-Stützpunkt in den umkämpften ukrainischen Luftraum flögen. (awp/mc/ps)