Kiew – Während in der Ukraine die Kämpfe toben, leitet Deutschland eine historische Wende ein: Bundeskanzler Olaf Scholz will die Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro massiv stärken. An Tag vier des russischen Feldzugs im Nachbarland gab es am Sonntag wieder heftige Gefechte um die Millionenstädte Kiew und Charkiw. Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht. Russlands Präsident Wladimir Putin sorgte für eine weitere Verschärfung des Konflikts, indem er die Abschreckungswaffen der Atommacht in besondere Alarmbereitschaft versetzen liess. Die Ukraine stimmte Friedensverhandlungen mit Russland an der Grenze zu Belarus zu.
Putin hatte am Donnerstag den Angriff auf die Ukraine gestartet – eine Zeitenwende, wie Scholz in einer Sondersitzung des Bundestags sagte. «Das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.» Deshalb werde Deutschland in einer «grossen nationalen Kraftanstrengung» mehr in Sicherheit investieren. Ein «Sondervermögen» von 100 Milliarden Euro solle für Investitionen und Rüstungsvorhaben genutzt werden.
Auch das lange verfehlte Nato-Rüstungsziel soll nun erfüllt werden. «Wir werden von nun an – Jahr für Jahr – mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren», sagte Scholz, der für sein Vorgehen die ausdrückliche Unterstützung von CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz erhielt. Scholz traf am Wochenende zudem zwei weitere tiefgreifende Entscheidungen, gegen die er sich lange gesträubt hatte: Deutschland wird nun doch Waffen an die Ukraine liefern, nämlich 1000 Panzerabwehrwaffen sowie 500 Boden-Luft-Raketen vom Typ «Stinger» aus Bundeswehrbeständen.
«Weiter so, Kanzler Olaf Scholz»
Und die Bundesregierung einigte sich mit westlichen Verbündeten doch auf einen Ausschluss russischer Banken aus dem internationalen Kommunikationssystem Swift, obwohl dies die Bezahlung russischer Energielieferungen an Deutschland berühren könnte. Dabei folgte die Bundesregierung dem Druck westlicher Partner und der Ukraine. Deren Präsident Wolodymyr Selenskyj lobte auf Twitter: «Weiter so, Kanzler Olaf Scholz.»
Aussenministerin Annalena Baerbock kündigte an, dass Deutschland seine humanitäre Hilfe für die Menschen in der Ukraine aufstocken werde. Unter anderem würden dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), das in der Ukraine und in den Nachbarstaaten aktiv ist, kurzfristig zehn Millionen Euro bereitgestellt. Deutschland, Österreich, Frankreich und andere europäische Staaten sperrten ihren Luftraum für russische Flugzeuge.
Strassenkämpfe in Charkiw
Gesicherte Informationen zum Kampfgeschehen in der Ukraine sind rar. Vieles kann nicht unabhängig geprüft werden. Nach ukrainischen Angaben lieferten sich in der Grossstadt Charkiw im Osten russische und ukrainische Truppen Strassenkämpfe. Die Angreifer seien ins Zentrum der Stadt mit etwa 1,5 Millionen Einwohnern gelangt. In der Nähe von Charkiw ging nach Darstellung der ukrainischen Agentur Unian eine Gasleitung in Flammen auf.
Zur Verteidigung von Kiew zog die Ukraine nach eigenen Angaben weitere Kräfte zusammen. Das Verteidigungsministerium sprach von russischen Angriffen im Norden und Nordwesten der Hauptstadt. Von Süden her stosse eine grosse Kolonne russischer Militärfahrzeuge auf Kiew vor. In der Nacht zum Sonntag soll ein Lager mit radioaktiven Abfällen von russischen Granaten getroffen worden sein, wie Medien meldeten. Nach ersten Messungen bestehe «keine Bedrohung für die Bevölkerung ausserhalb der Schutzzone».
Ukraine meldet 4300 gefallene russische Soldaten
Der ukrainische Generalstab erklärte, das Tempo des russischen Angriffs sei gebremst worden. Der Feind habe Nachschubprobleme, Soldaten seien erschöpft, die Truppe dezimiert. Bisher seien etwa 4300 Soldaten getötet worden, schrieb Vizeverteidigungsministerin Hanna Maljar bei Facebook. Dutzende Flugzeuge und Hubschrauber, Hunderte Panzer und weitere Fahrzeuge sollen zerstört worden sein.
Russland konterte mit eigenen militärischen Erfolgsmeldungen. Präsident Putin lobte, die russischen Streitkräfte hätten unter schwierigsten Bedingungen maximal effektiv ihre Aufgaben erfüllt. Das Verteidigungsministerium meldete die Festnahme von 471 ukrainischen Soldaten. Ukrainer hätten massenhaft den Kampf verweigert. Russland gibt an, seit Donnerstagmorgen 975 militärische Objekte zerstört zu haben – Fluggeräte, Panzer und andere Kampffahrzeuge. Weder die russischen noch die ukrainischen Angaben können unabhängig überprüft werden.
Die südukrainischen Städte Cherson und Berdjansk seien von russischen Truppen umzingelt, hiess es weiter. Im Donbass hätten die von Russland unterstützten Separatisten ihren Vormarsch fortgesetzt. Zu eigenen Opferzahlen macht Moskau keine Angaben. (awp/mc/pg)