Rettung von Zivilisten aus Mariupol scheitert

Rettung von Zivilisten aus Mariupol scheitert
Flüchtende werden von ukrainischen Militärangehörigen in der Stadt Mariupol über eine zerstörte Brücke geleitet.

Kiew – Die Rettung von Hunderttausenden Zivilisten aus der von Russland belagerten ukrainischen Hafenstadt Mariupol ist erneut gescheitert. Auch am Sonntag gelang die Evakuierung nach Angaben des Kreml und des Roten Kreuzes nicht. Russlands Präsident Wladimir Putin machte bei einem Gespräch mit dem französischen Staatschef Emmanuel Macron die Ukraine verantwortlich, die sich nicht an die vereinbarte Feuerpause halte. Das Rote Kreuz sprach von einem «Fehlen einer detaillierten und funktionierenden Übereinkunft zwischen den Konfliktparteien.»

In Berlin berieten unterdessen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen. US-Aussenminister Antony Blinken besuchte die Republik Moldau, wo viele Geflüchtete ankommen. In Deutschland demonstrierten Zehntausende, in Moskau – wo der wirtschaftliche Druck weiter steigt – wurden Tausende Kriegsgegner festgenommen.

Brennpunkt Mariupol
Die Menschen in Mariupol lebten in Schrecken und suchten verzweifelt nach Sicherheit, schrieb das Rote Kreuz auf Twitter. In der südukrainischen Stadt sitzen die Menschen nach ukrainischer Darstellung schon seit Tagen ohne Strom und Heizung, es soll viele Tote und Tausende Verletzte geben. Mehr als eine Woche nach Kriegsbeginn hatten Russland und die Ukraine am Samstag eine zeitweilige Waffenruhe für die Hafenstadt und eine Kleinstadt in der Umgebung vereinbart, um Menschen fliehen zu lassen – die Feuerpause wurde gebrochen, eine Evakuierung scheiterte nun bereits zum zweiten Mal.

Mariupols Bürgermeister Wadym Boitschenko sprach danach im ukrainischen Fernsehen von einer «humanitären Blockade» durch russische Einheiten. Er flehe um die Errichtung eines Korridors, um Ältere, Frauen und Kinder aus der Stadt mit rund 440’000 Einwohnern zu bringen.

«Am schnellsten wachsende Flüchtlingskrise seit dem 2. Weltkrieg»
Nach mehr als einer Woche Krieg fliehen immer mehr Ukrainer aus ihrer Heimat – vor allem in EU-Länder. Nach aktuellen Schätzungen der UN-Flüchtlingshilfsorganisation UNHCR sind bereits 1,5 Millionen vor dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine geflohen. «Dies ist nun die am schnellsten wachsende Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg», teilte die Organisation am Sonntag auf Twitter mit. Allein im ukrainischen Nachbarland Polen sind nach Angaben des Grenzschutzes seit Kriegsbeginn rund 922 400 Flüchtlinge angekommen.

Auch in Deutschland stieg die Zahl der ukrainischen Kriegsflüchtlinge am Wochenende weiter deutlich: Nach Angaben des Innenministeriums registrierte die Bundespolizei bis Sonntag deutschlandweit 37’786 geflüchtete Ukrainer – und damit fast 10’000 mehr als am Vortag. Bundeskanzler Scholz äusserte sich nach seinem Treffen mit EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen lobend über die europäische Solidarität: «Es ist gut und eben nicht selbstverständlich, dass alle EU-Staaten gemeinsam, schnell und unbürokratisch Kinder, Frauen und Männer aufnehmen.»

Ukraine meldet militärischen Druck auf Kiew
Der Generalstab in Kiew sieht den Hauptfokus der russischen Angreifer neben Mariupol weiter in der Umzingelung der Hauptstadt Kiew, der Millionenmetropole Charkiw im Osten und der Stadt Mykolajiw im Süden. Russische Einheiten versuchten, in die südwestlichen Aussenbezirke von Kiew einzudringen und näherten sich der Autobahn nach Boryspil, wo Kiews internationaler Flughafen liegt. Russland plane zudem die Einnahme des Wasserkraftwerks Kaniw rund 150 Kilometer südlich von Kiew am Fluss Dnipro.

In Moskau meldete das Verteidigungsministerium den Vormarsch der russischen Armee und der von ihr unterstützten Separatisten im Osten der Ukraine. Russische Streitkräfte und prorussische Separatisten brachten demnach mehr als ein Dutzend Ortschaften unter ihre Kontrolle. Zugleich meldete die russische Seite ukrainische Angriffe auf die selbst erklärten Volksrepubliken Luhansk und Donezk.

Die Angaben beider Seiten können nicht unabhängig überprüft werden.

«Wir müssen nach draussen gehen!»
Der russische Präsident Wladimir Putin hatte als Ziel der am 24. Februar begonnenen Invasion genannt, die Gebiete Donezk und Luhansk vollständig einzunehmen. Putin spricht von einer «militärischen Spezial-Operation». Russland hat nach eigenen Angaben mehr als 2200 Objekte militärischer Infrastruktur zerstört, aber auch Hunderte getötete Soldaten in den eigenen Reihen eingeräumt.

Der ukrainische Präsident Selenskyj forderte seine Landsleute in einer neuen Videobotschaft zum Widerstand gegen die russischen Truppen auf. «Wir müssen nach draussen gehen! Wir müssen kämpfen! Wann immer sich eine Gelegenheit bietet.»

Diplomatische Versuche
Neben Frankreichs Präsident Macron versuchte auch der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan bei einem Telefonat auf Kremlchef Putin einzuwirken. Erdogan erneuerte dem Präsidialbüro in Ankara zufolge seine Forderung nach einer Waffenruhe und bot sich als Vermittler an. Es müssten dringend Schritte für eine Waffenruhe, für die Öffnung humanitärer Korridore und für die Unterzeichnung eines Friedensabkommens eingeleitet werden.

Internationale Vermittlungsversuche scheinen in dem Krieg derzeit wenig zu fruchten. Israels Ministerpräsident Naftali Bennett war am Samstag zu einem Gespräch mit Putin in Moskau und anschliessend bei Bundeskanzler Scholz in Berlin. Danach erklärte der deutsche Regierungssprecher Steffen Hebestreit aber nur, das gemeinsame Ziel bleibe es, den Krieg in der Ukraine «so schnell wie irgend möglich» zu beenden.

Anti-Kriegsdemos in Deutschland und Russland
In vielen deutschen Städten sind am Wochenende wieder Zehntausende Menschen aus Protest gegen den russischen Angriff auf die Ukraine auf die Strasse gegangen. Auf Kundgebungen und Demonstrationen zeigten sie ihre Solidarität mit den Menschen in dem schwer umkämpften Land – einige schweigend, andere laut protestierend und wieder andere mit Musik. Allein in Hamburg kamen bei einer Kundgebung am Samstag laut Polizei bis zu 30 000 Menschen zusammen. Natalia Klitschko, die Frau des Kiewer Bürgermeisters Vitali Klitschko, bat auf der Rednerbühne um Unterstützung für ihr Land.

In Russland hatte der inhaftierte Kremlgegner Alexej Nawalny zu Protesten aufgerufen. Der Staatsagentur Tass zufolge wurden bei Demonstrationen in dem Land rund 3500 Menschen festgenommen. In mehreren russischen Städten hätten am Sonntag bis zum späten Nachmittag rund 5200 Menschen an nicht genehmigten Kundgebungen teilgenommen, meldete Tass unter Berufung auf das Innenministerium.

Wirtschaftlicher Druck auf Russland
Die USA, die EU und andere westliche Partner haben seit Kriegsbeginn harte Sanktionen gegen Russland verhängt. Nun kam ein weiterer Schlag der Privatwirtschaft hinzu: Die beiden weltgrössten Kreditkartenanbieter, Visa und Mastercard, setzten die internationalen Geschäfte mit Russland aus. Visa erklärte, demnächst würden in Russland ausgestellte Karten nicht mehr im Ausland funktionieren. Mastercard äusserte sich ähnlich. In Russland selbst sollen die Menschen aber weiter mit ihren Karten bezahlen und Geld abheben können, wie die russische Sberbank mitteilte.

Neue Sanktionsdrohungen – russisches Öl im Fokus
Blinken brachte neue Strafmassnahmen gegen Moskau ins Spiel: Washington berate mit europäischen Verbündeten über einen möglichen Importstopp für Öl aus Russland. «Wir sprechen jetzt mit unseren europäischen Partnern und Verbündeten, um auf koordinierte Weise die Aussicht auf ein Verbot der Einfuhr von russischem Öl zu prüfen», sagte Blinken dem Sender CNN am Sonntag. Die Debatte gehe auch darum, sicherzustellen, «dass auf den Weltmärkten weiterhin ein angemessenes Angebot an Öl besteht.

Bei der Frage zu weiterer militärischer Hilfe für die Ukraine widersprach Polen erneut Berichten, wonach das Land die Ukraine mit Kampfflugzeugen sowjetischer Bauart ausstatten will. Blinken sagte jedoch auch: «Wir sehen uns derzeit aktiv die Frage von Flugzeugen an, die Polen an die Ukraine liefern könnte.»

Mehrere Medien berichten nicht mehr aus Russland
Nach einer Gesetzesänderung, die das russische Parlament am Freitag verabschiedet hatte, setzen ARD, ZDF und Deutschlandradio – wie auch mehrere internationale Medien – die Berichterstattung aus ihren Moskauer Studios vorerst aus. Mit der Gesetzesänderung kann die Verbreitung angeblicher Falschinformationen über die russischen Streitkräfte mit hohen Geldstrafen und bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden. Die öffentlich-rechtlichen Sender aus Deutschland wollen von anderen Standorten aus weiterarbeiten. (awp/mc/ps)

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