Tel Aviv/Gaza – Nach gut einem Jahr Krieg gegen die Hamas hat das israelische Militär nach offiziellen Angaben im Gazastreifen den Anführer der islamistischen Terrororganisation, Jihia al-Sinwar, getötet. Der 61-Jährige, der als Drahtzieher des Massakers in Israel am 7. Oktober des Vorjahres gilt, war der von Israel meistgesuchte Terrorist. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu begrüsste seine Tötung als Meilenstein. «Dies ist der Beginn des Tags nach Hamas», sagte er in einer Videobotschaft, die er an die Bevölkerung des Gazastreifens richtete. Diese möge sich nun von der «Unterdrückungsherrschaft» der Hamas befreien. Er versicherte, die Extremisten würden künftig nie mehr im Gazastreifen herrschen.
Der drahtige, bärtige und zugleich brutale Terrorführer galt als Planer und Drahtzieher des blutigen Überfalls auf Israel vor etwas mehr als einem Jahr. Terroristen der Hamas und anderer Organisationen im Gazastreifen hatten dabei mehr als 1.200 Menschen getötet und weitere 250 in den Gazastreifen verschleppt – rund 100 sind immer noch dort gefangen. Das schlimmste Massaker an Juden seit dem Holocaust hatte den Gaza-Krieg ausgelöst, der in weiterer Folge die jüngste Eskalation in Nahost nach sich zog – zuletzt den israelischen Militäreinsatz gegen die Hisbollah im Libanon.
Medienberichten zufolge wurde Sinwar bei einem eher zufälligen Zusammenstoss mit israelischen Soldaten getötet. Die Streitkräfte seien am Mittwoch bei einem Einsatz in der Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen unterwegs gewesen, berichteten verschiedene israelische Medien.
Es sei zu einer Konfrontation mit Sinwar und zwei weiteren Bewaffneten gekommen. Erst nach seiner Tötung sei den Soldaten die Ähnlichkeit einer Leiche mit dem Hamas-Chef aufgefallen. Die getöteten Männer hätten grosse Mengen an Bargeld und gefälschte Pässe bei sich gehabt. Sinwar habe eine Weste mit Handgranaten getragen.
Zahnproben und Fingerabdrücke belegen Identität
Die israelische Armee bestätigte, Soldaten der 828. Brigade (Bislach) hätten drei Terroristen im Süden des Gazastreifens getötet. Sie seien in den vergangenen Wochen verstärkt im südlichen Teil des Küstenstreifens im Einsatz gewesen – nach Geheimdienstinformationen, dass sich dort ranghohe Hamas-Mitglieder versteckt halten könnten.
Forensiker der israelischen Polizei stellten die Identität Sinwars anhand von Zahnproben und Fingerabdrücken fest. Eine DNA-Analyse sei noch im Gange, teilte die Behörde mit. Israel verfügt über die biometrischen Daten des Hamas-Chefs, weil dieser mehr als 20 Jahre in israelischen Gefängnissen gesessen hatte.
Sinwar stand seit Beginn des Gaza-Kriegs ganz oben auf Israels Abschussliste. Über weite Strecken dürfte er sich in dem hunderte Kilometer langen Tunnelnetz versteckt haben, das die Hamas unter seiner Herrschaft im ganzen Gazastreifen angelegt hatte. Er vermied es, mit technischen Geräten wie Mobiltelefonen zu kommunizieren, und verbreitete Mitteilungen und Instruktionen lediglich mit Hilfe von Boten. Was ihn am Ende dazu bewog, mit zwei anderen Kämpfern aus dem Untergrund aufzutauchen, war zunächst nicht klar. Anders als bislang vermutet, war er auch nicht von Geiseln umgeben.
Vor ihm tötete Israel mehrere Spitzenvertreter der Hamas, unter ihnen Mohammed Deif, den Militärkommandeur der islamistischen Organisation. Israel zugeschrieben wird auch der Mordanschlag auf den politischen Führer der Hamas, Ismail Hanija, in Teheran. Sinwar, der bis dahin der Hamas-Chef im Gazastreifen gewesen war, übernahm daraufhin die gesamte Führung der Organisation.
Ein Leben im Zeichen der Gewalt
Der 61-jährige Sinwar gehörte zur Gründergeneration der Hamas und wurde 2017 ihr Chef im Gazastreifen. Als junger Funktionär, der für die innere Sicherheit zuständig war, war er für seine Brutalität im Umgang mit Verdächtigen und politischen Gegnern berüchtigt. Wegen seiner Grausamkeit auch gegen die eigenen Leute war er als der «Schlächter von Chan Junis» bekannt, benannt nach seinem Herkunftsort. Seit 2017 war Sinwar Hamas-Chef im Gazastreifen. In dieser Funktion rüstete er die Hamas mit iranischer Hilfe massiv auf und bereitete sie auf den Terrorüberfall im Oktober 2023 vor.
Sinwar war 1988 wegen Mordes an vier mutmasslichen Kollaborateuren und zwei israelischen Soldaten von Israel verurteilt worden. Er verbrachte mehr als zwei Jahrzehnte in israelischer Haft und lernte in der Zeit Hebräisch. 2011 kam er als einer von mehr als 1000 palästinensischen Häftlingen im Gegenzug für den israelischen Soldaten Gilad Schalit frei.
Neue Hoffnung für Geiseln?
Angehörige der Geisel forderten, die Situation nach dem Tod vom Sinwar zu nutzen und die Bemühungen um die Freilassung der Verschleppten massiv zu verstärken. Ministerpräsident Netanjahu sagte in seiner Botschaft an die Geiselnehmer in Gaza gewandt: «Wer seine Waffen niederlegt und die Geiseln zurückgibt – dem werden wir es ermöglichen, herauszukommen und zu überleben.» Gleichzeitig drohte er, man werde mit jedem «die Rechnung begleichen», der den Geiseln Schaden zufüge.
Es gebe nun eine Chance auf einen «Tag danach» im Gazastreifen ohne die Hamas an der Macht, sagte US-Präsident Joe Biden. Es gebe auch eine Chance auf eine politische Lösung, die Israelis und Palästinensern gleichermassen eine bessere Zukunft biete. Sinwar sei dafür ein Hindernis gewesen, das es jetzt nicht mehr gebe. «Aber es liegt noch viel Arbeit vor uns», mahnte Biden. (awp/mc/pg)