Israel kündigt weitere Angriffe auf Hisbollah an
Beirut / Tel Aviv – Obwohl Israels Luftangriffe im Libanon seit Montag zehntausende Zivilisten in die Flucht geschlagen haben, will die Regierung in Jerusalem den militärischen Druck auf die Hisbollah erhöhen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kündigte weitere Angriffe auf die proiranische Miliz an, die Israels Norden seit Beginn des Gaza-Kriegs vor knapp einem Jahr praktisch täglich mit Raketen beschiesst. In der israelischen Küstenmetropole Tel Aviv und anderen Städten des Landes wurde am frühen Morgen Raketenalarm ausgelöst. Die Gewalteskalation in Nahost ist eines der prägendsten Themen der laufenden UN-Vollversammlung in New York und wird heute im Mittelpunkt einer Sondersitzung des Weltsicherheitsrats stehen.
Israels Militär und die vom Iran unterstützte Hisbollah im Libanon liefern sich seit Monaten Gefechte im Grenzgebiet beider Länder, die sich in den vergangenen Tagen nochmals deutlich verschärft haben. Die jüngsten Angriffe Israels mit Hunderten Toten und noch mehr Verletzten sind die folgenschwersten seit fast zwei Jahrzehnten und schüren die Sorge vor einer unkontrollierbaren Eskalation in der Region – zumal Israel gleichzeitig in kriegerische Auseinandersetzungen mit der Terrororganisation Hamas verwickelt ist, einem Verbündeten der Hisbollah.
Am Morgen heulten die Sirenen der Alarmsysteme praktisch im gesamten Zentrum Israels, wie die Armee auf der Online-Plattform X mitteilte. Eine aus dem Libanon abgefeuerte Rakete sei über dem Grossraum Tel Aviv abgefangen worden. Weitere Details zu dem Raketenangriff wurden zunächst nicht mitgeteilt. In Tel Aviv war zuletzt Ende Mai Raketenalarm ausgelöst worden, damals wegen eines Angriffs der Hamas. Es ist auch das erste Mal überhaupt seit dem Massaker vom 7. Oktober vergangenen Jahres und dem darauffolgenden Beginn des Gaza-Kriegs, dass eine Rakete aus dem Libanon bis zum Grossraum Tel Aviv vordrang.
«Wer eine Rakete im Wohnzimmer hat …»
«Wir werden weiterhin gegen die Hisbollah vorgehen», sagte Netanjahu ungeachtet der harschen Kritik am Tod vieler Zivilisten, die bei den israelischen Luftangriffen im nördlichen Nachbarland ums Leben kamen. Er betonte erneut, dass sich der Krieg nicht gegen das libanesische Volk richte, sondern allein gegen die Hisbollah – wer aber Waffen für die Miliz verstecke, gerate ebenfalls ins Visier: «Wer eine Rakete im Wohnzimmer und eine Rakete in der Garage hat, wird kein Zuhause mehr haben.»
Am Abend attackierte Israels Luftwaffe laut Armeeangaben wieder Dutzende militärische Einrichtungen der Hisbollah im Osten und Süden des Libanon, darunter Waffenlager und Raketenabschussrampen. Nach israelischer Darstellung werden diese oft bewusst in Wohngebieten platziert, um Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. Tausende Privatwohnungen seien auf diese Weise in militärische Stützpunkte der Miliz umgewandelt worden, sagte Armeesprecher Daniel Hagari. Netanjahu forderte die Libanesen dazu auf, sich aus den Fängen der Hisbollah zu befreien, die in dem Küstenland wie ein Staat im Staate agiert.
Israel sieht Hisbollah schon jetzt stark geschwächt
«Wir dürfen der Hisbollah keine Pause gewähren. Wir müssen mit aller Kraft weitermachen», sagte der israelische Generalstabschef Herzi Halevi. Schon jetzt sei die Miliz durch die strategischen Erfolge seiner Armee drastisch geschwächt, sagte Verteidigungsminister Joav Galant. «Die Hisbollah von heute ist nicht mehr dieselbe Hisbollah, die wir vor einer Woche kannten.»
Nach Militärangaben hat die schwer bewaffnete Miliz seit Beginn des Kriegs gegen die mit ihr verbündete Hamas im Gazastreifen, also seit Anfang Oktober vergangenen Jahres, rund 9.000 Raketen und Drohnen für Angriffe auf Israel eingesetzt. Galant zufolge wurden bei den jüngsten Angriffen nun Zehntausende ihrer Raketen zerstört. Vor Beginn der Hisbollah-Attacken am 8. Oktober wurde ihr Waffenarsenal auf 150.000 Raketen, Drohnen und Marschflugkörper geschätzt.
Miliz bestätigt Tod ihres Raketenchefs
Der nun laufende Militäreinsatz im Libanon unter dem Codenamen «Pfeile des Nordens» solle so schnell wie möglich beendet werden, betonte Armeesprecher Hagari. Deshalb greife das Militär mit geballten Kräften an. Allerdings müssten die Israelis auch darauf vorbereitet sein, dass der Einsatz länger dauern könne.
Schon jetzt sollen etliche Mitglieder der Führungsriege der Hisbollah bei dem Militäreinsatz getötet worden sein. Zuletzt traf es den Leiter der Raketeneinheit, Ibrahim Muhammad Kubaisi – er und zwei weitere Hisbollah-Kommandeure seien bei einem «gezielten Angriff» in einem Vorort der Hauptstadt Beirut ums Leben gekommen, teilte Israels Armee mit. Auch die Hisbollah bestätigte Kubaisis Tod. Er war laut Armee unter anderem für Raketenangriffe auf Israel und Anschläge auf israelische Zivilisten verantwortlich.
Nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums zerstörte der Luftangriff zwei Stockwerke eines Gebäudes, tötete 6 Menschen und verletzte 15 weitere. Insgesamt wurden im Zuge der israelischen Attacken seit Montag demnach mehr als 550 Menschen getötet und fast 2000 verletzt.
Libanon schon vor Angriffswelle in tiefer Krise
Die Not der Menschen im Libanon war schon vor Beginn der jetzigen Angriffswelle gross. Die Wirtschaft steckt in einer tiefen Krise, grosse Teile der Bevölkerung leben in Armut. Dennoch hat der kleine Mittelmeerstaat gemessen an seiner Einwohnerzahl nach UN-Angaben so viele Flüchtlinge aufgenommen wie kein anderes Land der Welt – allein aus Syrien wurden seit Beginn des dortigen Bürgerkriegs im Jahr 2011 rund 1,5 Millionen Hilfesuchende aufgenommen.
Nun kommen noch einmal zahlreiche Binnenvertriebene dazu. Infolge der israelischen Luftangriffe brach bei vielen Libanesen Panik aus – Zehntausende ergriffen die Flucht und versuchten, auf heillos überfüllten Strassen gen Norden zu kommen. Allein 27.000 Menschen flohen nach Behördenangaben aus dem Süden und der Bekaa-Ebene im Osten. Mehr als 250 Schulen seien deshalb kurzfristig zu Notunterkünften gemacht worden. Selbst ins benachbarte Bürgerkriegsland Syrien, wo die Lage kaum minder prekär ist, sollen hunderte Menschen geflüchtet sein.
Israel will die Hisbollah mit den Angriffen im Libanon auch dazu bewegen, sich aus dem Grenzgebiet beider Länder zurückzuziehen. Seit Beginn des Gaza-Kriegs nach dem Terrorangriff der Hamas und anderer islamistischer Extremisten auf Israel am 7. Oktober vergangenen Jahres beschiesst die Miliz regelmässig den Norden des jüdischen Staats – aus Solidarität mit der Hamas, wie sie sagt. Israels Militär schiesst zurück. Auf beiden Seiten der Grenze gab es Tote, allein in Israel flüchteten rund 60.000 Menschen aus ihren Heimatorten. Die Rückkehr der Menschen in den Norden des Landes ist ein erklärtes Kriegsziel von Netanjahus Regierung.
Grossbritannien entsendet hunderte Soldaten
Der iranische Präsident Massud Peseschkian sagte in einer Rede vor der UN-Vollversammlung in New York, es sei selbstverständlich, dass die «terroristischen Verbrechen» der israelischen Armee und die «Aggression gegen den Libanon» nicht unbeantwortet bleiben könnten. Überdies sei die Präsenz ausländischer Mächte im Nahen Osten eine «Quelle der Instabilität». Peseschkian rief die Länder in der Region zu mehr Zusammenarbeit auf, da ihr Schicksal untrennbar miteinander verbunden sei. Gleichzeitig sei die Islamische Republik Iran «entschlossen, ihre Sicherheit zu gewährleisten, ohne andere zu destabilisieren».
Die Eskalation der Gewalt wird nicht nur in den direkten Nachbarländern mit Sorge verfolgt. Die britische Regierung wies alle Landsleute an, den Libanon sofort zu verlassen. Ausserdem würden «in den nächsten Stunden» 700 Soldaten auf die nahegelegene Mittelmeerinsel Zypern verlegt – die Mitteilung der Regierung vom Dienstagabend legt nahe, dass dies zum Vorbereiten einer möglichen Evakuierungsaktion geschieht. (awp/mc/pg)