Israel meldet Einkesselung von Chan Junis
Chan Junis / Tel Aviv – Israels Armee hat die grösste Stadt im Süden des Gazastreifens nach eigenen Angaben nun eingekesselt und das Haus des Gaza-Chefs der islamistischen Hamas umstellt. Jihia al-Sinwar könne fliehen, sagte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Mittwochabend, «aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir ihn finden». Während in Chan Junis, die als Hochburg der Hamas gilt, der erbitterte Häuserkampf weitergeht, forderte UN-Generalsekretär António Guterres den Weltsicherheitsrat in einem seltenen Schritt zur Abwendung einer humanitären Katastrophe in dem Küstengebiet auf.
Guterres fordert abermals einen Waffenstillstand
«Ich wiederhole meinen Aufruf, dass ein humanitärer Waffenstillstand ausgerufen werden muss. Das ist dringend. Der zivilen Bevölkerung muss grösseres Leid erspart bleiben», schrieb er an den Sicherheitsrat und berief sich am Mittwoch auf Artikel 99 der UN Charta. Dieser erlaubt dem Generalsekretär, den Sicherheitsrat auf «jede Angelegenheit hinzuweisen, die seiner Meinung nach die Gewährleistung von internationalem Frieden und Sicherheit gefährden kann» und ist nach Angaben der UN seit Jahrzehnten nicht mehr angewandt worden.
Israel erlaubt mehr Treibstoff für Gaza
Angesichts des Leids der Zivilbevölkerung wächst international die Kritik am Vorgehen der israelischen Armee. Israel erlaubt nun die Einfuhr von mehr Treibstoff in den Süden des Gazastreifens. Das Sicherheitskabinett habe am Mittwochabend einer Empfehlung des Kriegskabinetts zugestimmt, teilte Netanjahus Büro mit. Eine Erhöhung der erlaubten Mindestmenge sei erforderlich, «um einen humanitären Zusammenbruch und den Ausbruch von Epidemien zu verhindern», hiess es. Unklar war zunächst, um wie viel die Treibstoffmenge, die täglich in den Gazastreifen gebracht werden darf, konkret erhöht werden soll.
Israel: Verteidigungsanlagen um Chan Junis durchbrochen
Derweil vermeldete die israelische Armee am Abend aus der Stadt Chan Junis den Durchbruch durch die dortigen Verteidigungsanlagen der Hamas. Die Soldaten hätten nun Angriffe gegen zentrale Stellungen der Terroristen gestartet und stiessen nun tiefer in die Stadt vor, wo sich auch Sinwars Haus befindet. Sinwar sei nicht über der Erde, sondern im Untergrund, sagte der israelische Armeesprecher Daniel Hagari am Mittwochabend. Die Umstellung seines Hauses zeigt aus Sicht Israels jedoch, dass die Armee jeden Ort in Gaza erreichen kann.
Experten vermuten, dass sich die Führung der Hamas und Tausende ihrer Mitglieder in einem weit verzweigten Tunnelnetz verschanzt haben könnten. Auch zahlreiche der noch festgehaltenen Geiseln werden dort vermutet. Seit dem Terrorangriff der Hamas und anderer Gruppierungen auf israelischem Gebiet am 7. Oktober, bei dem rund 1200 Menschen getötet wurden, steht Sinwar ganz oben auf Israels Abschussliste.
Sollte die israelische Regierung den Tod von Sinwar und anderer Hamas-Führer verkünden können, «würde sie viel Kapital daraus schlagen und behaupten können, dass ihre militärischen Ziele erreicht worden sind», sagte Hugh Lovatt von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations im «Wall Street Journal». Dies könne dazu beitragen, «die Bedingungen für ein Ende des Krieges zu schaffen».
Israel übt erneut scharfe Kritik an Guterres
Israels Aussenminister übte derweil erneut scharfe Kritik an UN-Generalsekretär Guterres. «Sein Antrag, Artikel 99 zu aktivieren und die Forderung nach einem Waffenstillstand in Gaza stellen eine Unterstützung der Terrororganisation Hamas dar», so Eli Cohen auf X. «Jeder, der den Weltfrieden unterstützt, muss die Befreiung Gazas von der Hamas unterstützen.» Guterres Amtszeit gefährde den Weltfrieden.
Direkte Folgen hat eine Berufung auf den Artikel nicht. Es sei aber zu erwarten, dass der Sicherheitsrat noch diese Woche zusammenkomme, so ein Sprecher. Guterres hatte immer wieder auf die prekärere Lage der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen hingewiesen. Berichten von Augenzeugen zufolge sind Tausende Familien von Chan Junis nach Al-Mawasi geflohen. Auch dort fehlten Nahrungsmittel, Wasser und Unterkünfte. «Es gibt keine ’sichere› Zone. Der ganze Gazastreifen ist zu einem der gefährlichsten Orte der Welt geworden», so das Palästinenserhilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA) auf X.
Die nächste Phase der Kämpfe im Gazastreifen drohe Zehntausende von Zivilisten nach Rafah nahe der ägyptischen Grenze zu treiben, berichtete das «Wall Street» am Mittwochabend (Ortszeit) weiter. Ägypten habe die Sicherheitsabsperrungen an der Grenze zum Gazastreifen verstärkt. Auch die Hafenstadt Al Arish, etwa eine Autostunde westlich von Rafah, sei abgeriegelt worden. Diese sei zur Sammelstelle für humanitäre Hilfsgüter für den Gazastreifen geworden.
Auch Huthi-Rebellen greifen Israel direkt an
Unterdessen haben auch die schiitischen Huthi-Rebellen im Jemen nach eigenen Angaben Gebiete in Israel angegriffen. «Eine Ladung ballistischer Raketen» sei auf verschiedene militärische Ziele im Süden Israels abgefeuert worden, erklärten die vom Iran unterstützten Rebellen am Mittwochabend. Die Angriffe «gegen den israelischen Feind» würden so lange fortgesetzt «bis die Aggression gegen unsere Brüder in Gaza endet», hiess es. So lange würden auch israelische Schiffe daran gehindert werden, das Rote Meer zu befahren.
Was am Donnerstag wichtig wird
In Chan Junis geht der Häuserkampf weiter. Die humanitäre Lage der Hunderttausenden Zivilisten wird immer prekärer. Vertreter aus Brüssel und Peking treffen sich derweil zum EU-China-Gipfel in der chinesischen Hauptstadt. Dabei soll es auch um den Gaza-Krieg gehen. (awp/mc/ps)