Israel: Streit in der Regierung – Humanitäre Katastrophe in Gaza
Tel Aviv / Gaza – Rund drei Monate nach Beginn des Gaza-Kriegs ist bei einer Sitzung des israelischen Kabinetts Medienberichten zufolge ein heftiger Streit entbrannt. Rechtsgerichtete Minister hätten den Generalstabschef Herzi Halevi scharf angegriffen, der eine Kommission einsetzen will, um mögliche Fehler der Armee rund um den Überraschungsangriff der islamistischen Hamas am 7. Oktober auf Israel aufzudecken. Unterdessen warnen Hilfsorganisationen erneut vor der katastrophalen humanitären Lage im Gaza-Streifen.
Auslöser des Gaza-Kriegs war die grausame Terrorattacke der islamistischen Hamas und anderer extremistischer Palästinensergruppen am 7. Oktober. Sie ermordeten mehr als 1200 Menschen. Israel reagierte mit massiven Luftangriffen und einer Bodenoffensive. Nach Angaben der von der islamistischen Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde wurden im Gazastreifen seit Kriegsbeginn 22 600 Menschen getötet und fast 58 000 verletzt.
«Totale Anarchie» – wütender Streit bei Kabinettssitzung
Bei der Kabinettssitzung in der Nacht zu Freitag sei es zu einem «lauten und wütenden Streit» gekommen, berichteten der staatliche Sender Kan und die Zeitungen «Times of Israel» und «Jerusalem Post». Kan zitierte einen Teilnehmer mit den Worten, es sei «totale Anarchie» ausgebrochen. Regierungschef Benjamin Netanjahu habe die Sitzung, bei der es eigentlich um die Zukunft des Gazastreifens nach dem Krieg gehen sollte, schliesslich vertagt. Zuvor hätten schon mehrere Militärvertreter erbost den Raum verlassen, hiess es in den Berichten. Die Regierung bestätigte den Streit zunächst nicht.
Auch die Berufung des früheren Verteidigungsministers Schaul Mofas an die Spitze der Untersuchungskommission sei auf scharfen Protest rechter Minister gestossen, hiess es in israelischen Medien. Mofas hatte als Verteidigungsminister den Rückzug Israels aus dem Gazastreifen 2005 überwacht. Rechtsextreme Minister fordern nun jedoch eine Wiederbesiedlung des Gazastreifens nach dem Krieg und eine dauerhafte Militärpräsenz. Das lehnt Verteidigungsminister Joav Galant ab, dessen Plan für den «Tag danach» vorsieht, die Palästinenser für den Gazastreifen in der Verantwortung zu nehmen.
Mediziner berichten von grausigen Zuständen in Gaza
Ausländische Hilfsorganisationen berichteten über grausige Zustände in den wenigen noch im Gazastreifen arbeitenden Krankenhäusern. «Wir sehen Verletzungen, die überwiegend durch Explosionen und Splitter verursacht wurden», wurde der Leitende Chirurg des Universitätskrankenhauses Oxford und Klinische Leiter des Medizinischen Notfallteams, Nick Maynard, in einer Mitteilung der privaten Hilfsorganisation International Rescue Committee (IRC) mit Sitz in New York zitiert. «Viele Erwachsene, Kinder und Babys werden mit traumatischen Amputationen von Armen und Beinen eingeliefert. Wir haben kleine Kinder mit den furchtbarsten Verbrennungen im Gesicht gesehen», fügte Maynard hinzu.
Beim Kampf der israelischen Armee gegen die Hamas wurden immense Schäden an Wohngebäuden sowie der zivilen Infrastruktur wie etwa Krankenhäuser angerichtet. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) teilte kurz nach Weihnachten mit, es seien nur noch 13 der ursprünglich 36 Krankenhäuser teilweise funktionsfähig. Sie seien völlig überbelegt und es fehle ihnen an Treibstoff, Medikamenten, Narkosemitteln, Lebensmitteln und Trinkwasser.
UN-Nothilfebüro: Tagelang kein Zugang zum Norden Gazas
Hilfsorganisationen können nach Angaben des UN-Nothilfebüros OCHA seit Tagen keine dringend benötigte lebensrettende Hilfe in den Norden Gazas liefern. Wie OCHA mitteilte, seien UN- und ihre Partnerorganisationen vier Tage lang nicht in der Lage gewesen, humanitäre Hilfe nördlich des Flusses Wadi Gaza zu liefern, da der Zugang verzögert oder verweigert worden sei und in dem Gebiet weiter gekämpft werde. Zu den dringend benötigten Hilfslieferungen gehörten auch Medikamente. Es werde ein sicherer und ungehinderter Zugang zu den Gebieten nördlich des Wadi Gaza gefordert, die seit mehr als einem Monat vom Süden abgeschnitten seien.
Die meisten Kinder im Gazastreifen unzureichend ernährt
Auch die Lage für Minderjährige im Gazastreifen spitzt sich nach Angaben des UN-Kinderhilfswerk Unicef weiter zu. 90 Prozent aller 1,1 Millionen junger Menschen in dem Küstenstreifen seien Ende Dezember einer Untersuchung zufolge nicht ausreichend mit Nährstoffen versorgt gewesen. Die Zahl der Durchfallerkrankungen sei extrem gestiegen.
Augenzeugen berichten von schweren Gefechte im Süden Gazas
Augenzeugen im südlichen Gazastreifen berichteten am Freitag von schweren Gefechten in der Gegend der Stadt Chan Junis. Ständig seien schwere Detonationen und Schüsse zu hören, berichtete ein dpa-Mitarbeiter. Die israelischen Truppen würden weiter in die Flüchtlingslager Nuseirat, Bureidsch und Maghasi vordringen. Bewohner seien mit Eselskarren auf der Flucht Richtung Rafah und in andere Teile von Chan Junis sowie nach Deir al-Balah, hauptsächlich zu Orten, die von der israelischen Armee als sichere Gebiete angegeben worden waren. Lebensmittel seien knapp. Viele Menschen hätte nur noch prekäre Unterkünfte aus Plastikplanen.
Hisbollah-Chef kündigt Reaktion auf Al-Aruris Tötung an
Nach der Tötung des Hamas-Anführers Saleh al-Aruri in Beirut kündigte Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah erneut Vergeltung an. «Die Ermordung Al-Aruris (…) wird sicherlich nicht ohne Reaktion und Strafe bleiben», sagte der Generalsekretär der proiranischen Schiitenorganisation in einer Rede. Der Libanon würde blossgestellt, wenn die Tötung ohne Reaktion bliebe. Al-Aruri wurde am Dienstag in der libanesischen Hauptstadt mutmasslich von Israel getötet.
Sein Tod hatte Befürchtungen neuen Auftrieb gegeben, dass der Gaza-Krieg auch den Libanon erfassen könnte. Seit Beginn der israelischen Offensive in dem Küstenstreifen kommt es in der Grenzregion fast täglich zu Konfrontationen zwischen Israels Armee und der mit der Hamas verbündeten Hisbollah. Die israelische Armee griff auch am Freitag wieder Stellungen im Südlibanon an. (awp/mc/pg)