Tel Aviv – Vor einer erwarteten Bodenoffensive im Gazastreifen hat das israelische Militär mehr als eine Million Palästinenser im Norden des Küstenstreifens zur Evakuierung aufgefordert. «Das Militär ruft alle Zivilisten von Gaza-Stadt auf, ihre Häuser zu ihrer eigenen Sicherheit und zu ihrem Schutz nach Süden zu verlassen», sagte Armee-Sprecher Jonathan Conricus am Freitag. Demnach sollten sich die Menschen in ein Gebiet südlich des Wadis Gaza begeben, das etwa in der Mitte des nur 40 Kilometer langen Gebiets liegt.
Die Vereinten Nationen forderten Israel umgehend auf, die Anweisung zu widerrufen. Es drohe eine «katastrophale Situation», sagte ein UN-Sprecher. Unterdessen traf Aussenminister Annalena Baerbock in Israel ein, um ihre Solidarität mit dem von der islamistischen Hamas angegriffenen Land zu zeigen.
Baerbock verurteilt Gräueltaten der Hamas
Vor ihrem Abflug am frühen Morgen in Berlin hatte Baerbock den blutigen Hamas-Angriff, bei dem mindestens 1300 Israelis, überwiegend Zivilisten, getötet und rund 3000 verletzt worden waren, erneut scharf verurteilt. «Die Hamas hat in den vergangenen Tagen schreckliche Gräueltaten verübt», sagte sie. Die Terrorangriffe seien eine brutale Zäsur. Für die Menschen in Israel habe eine neue Zeitrechnung begonnen. «Es gilt, hinzusehen, und diesen Terror beim Namen zu nennen.» Die EU, die USA und Israel stufen die Hamas als Terrororganisation ein. Am Vortag hatte das Büro von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auf der vormals als Twitter bekannten Plattform X Fotos ermordeter israelischer Kinder geteilt, darunter auch von verbrannten Leichen. Sie sind jedoch hinter einer Schranke mit Altersbeschränkung.
Vereinte Nationen stemmen sich gegen Massenevakuierung
Der Aufruf zur Massenevakuierung etwa der Hälfte der Bevölkerung des Gazastreifens in den Süden traf auf den entschiedenen Widerstand der UN. Die UN sei in der Nacht von ihren Verbindungsoffizieren beim israelischen Militär darüber informiert worden, dass sich die gesamte Bevölkerung nördlich von Wadi Gaza binnen 24 Stunden in den Süden begeben solle, sagte UN-Sprecher Stephane Dujarric in New York. «Die Vereinten Nationen fordern nachdrücklich, dass jede solche Anordnung, sofern sie bestätigt wird, aufgehoben wird, um zu vermeiden, dass aus einer ohnehin schon tragischen Situation eine katastrophale Situation wird», sagte der Sprecher
Frist von 24 Stunden von Israel zunächst nicht bestätigt
Die UN-Angabe, Israel habe für die Evakuierung eine Frist von 24 Stunden gesetzt, wurde von der Armee nicht bestätigt. Deren Mitteilung enthielt keine Zeitangabe. Armeesprecher Conricus sagte nur: «Uns ist klar, dass das Zeit in Anspruch nimmt, das ist keine einfache Aktion.» Der Aufruf wird als Hinweis auf eine bevorstehende Bodenoffensive in den Gazastreifen gewertet. Militärsprecher Daniel Hagari sagte, es sei Israel klar, dass eine Evakuierung mehr als 24 Stunden dauern würde. Er nannte aber keinen klaren Zeitrahmen.
WHO: Für Schwerkranke kommt Evakuierung einem Todesurteil gleich
Ein Sprecher der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wies in Genf darauf hin, dass die Verlegung von schwer kranken und schwer verletzten Patienten aus dem nördlichen Gazastreifen unmöglich sei. «Solche Menschen zu transportieren, kommt einem Todesurteil gleich», sagte Sprecher Tarik Jasarevic. Bei israelischen Gegenschlägen nach dem blutigsten Angriff auf das Land seit dessen Gründung 1948 starben bisher im Gazastreifen nach Angaben des Gesundheitsministeriums mindestens 1537 Menschen, 6612 Menschen wurden verletzt. Die Krankenhäuser, denen der Strom ausgeht, sind nach Angaben der Gesundheitsbehörden überfüllt. Medikamente würden ebenso wie Trinkwasser und Nahrungsmittel wegen der Abriegelung durch Israel knapp.
Evakuierung in solch kurzer Zeit unrealistisch
Eine Massenevakuierung binnen 24 Stunden wäre auch nicht realistisch, weil sich 50 000 Menschen pro Stunde über enge Strassen auf den Weg Richtung Wadi Gaza machen müssten. Zudem berichteten Augenzeugen im Gazastreifen, Bewohner seien bereits von der Hamas gestoppt und zur Rückkehr in den Norden aufgefordert worden. Generell herrsche grosse Panik in dem Gebiet, es gebe keine klaren Anweisungen. Vom Zentrum Gaza-Stadt bis zum Wadi Gaza sind es etwa zehn Kilometer Luftlinie.
Israel vermutet Hamas in Tunneln unter Wohnhäusern
Vom israelischen Militär hiess es, Hamas-Terroristen versteckten sich in Gaza in Tunneln unter Häusern und in Gebäuden, in denen sich Zivilisten aufhielten. Armeesprecher Conricus sagte zur Evakuierung: «Uns ist klar, dass das Zeit in Anspruch nimmt, das ist keine einfache Aktion.»
Hamas bezeichnet den Aufruf als Propaganda
Die Hamas im Gazastreifen bezeichnete den Aufruf zur Evakuierung als Propaganda. Zivilisten sollten nicht auf die «Propagandanachrichten reinfallen». Aus Sicherheitskreisen aus dem Gazastreifen hiess es, dass Bewohner am Verlassen des Nordens gehindert werden sollten. Israel, die USA und die EU haben die Hamas als Terrororganisation eingestuft.
Hamas behauptet: 13 Geiseln bei israelischen Luftangriffen getötet
Nach Angaben des militärischen Arms der Hamas im Gazastreifen sollen 13 der rund 150 aus Israel verschleppten Geiseln bei israelischen Luftangriffen getötet worden sein. Darunter sollen auch ausländische Staatsangehörige sein, behaupteten die Al-Kassam-Brigaden in einer Stellungnahme am Freitag. Unabhängig konnten diese Angaben nicht überprüft werden. Die israelische Armee wollte den Bericht prüfen.
Israelische Armee setzt Luftangriffe fort
Die israelische Luftwaffe setzte auch in der Nacht ihre Luftangriffe fort. Dutzende Kampfflugzeuge hätten 750 militärische Ziele angegriffen, teilte Israels Militär am frühen Morgen mit. Zu den angegriffenen Zielen gehörten unterirdische Tunnel, militärische Einrichtungen, Wohnsitze hochrangiger Terroristen, die als militärische Kommandozentralen genutzt würden sowie Waffenlager.
US-Aussenminister will palästinensischen Präsidenten Abbas treffen
US-Aussenminister Antony Blinken will sich derweil mit dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas treffen. Er werde nach seinem Aufenthalt in Israel nach Jordanien weiterreisen, um dort Abbas sowie den jordanischen König Abdullah II. zu treffen, kündigte Blinken am Donnerstag in Tel Aviv an. Danach will er auch Katar, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten besuchen, um mit Regierungsvertretern zu sprechen, hiess es. (awp/mc/ps)