Washington – US-Präsident Joe Biden hat seinen Vorgänger Donald Trump in einem ungewöhnlichen Schritt scharf angegriffen und für die Erstürmung des Kapitols vor einem Jahr verantwortlich gemacht. «Zum ersten Mal in unserer Geschichte hat ein Präsident nicht nur eine Wahl verloren, sondern versucht, die friedliche Machtübergabe zu verhindern», sagte Biden am Donnerstag im Kapitol in seiner Ansprache zum Jahrestag. «An diesem Gedenktag müssen wir dafür sorgen, dass ein solcher Angriff nie wieder geschieht.» Trumps Namen nannte Biden in seiner 25-minütigen Rede kein einziges Mal. Der US-Demokrat sprach stattdessen wiederholt von «dem früheren Präsidenten».
Anhänger Trumps hatten am 6. Januar 2021 das Gebäude des US-Parlaments in Washington erstürmt, um zu verhindern, dass Bidens Wahlsieg vom November 2020 bestätigt wird. Dabei kamen fünf Menschen ums Leben. Die Attacke aufs Herz der US-Demokratie erschütterte das Land. Trump hatte seine Anhänger in einer Ansprache angestachelt. Er erkennt seine Niederlage auch fast ein Jahr nach dem Machtwechsel nicht an und behauptet, durch Betrug um den Sieg gebracht worden zu sein. Beweise hat er nicht. Dutzende Klagen scheiterten vor Gericht.
Nur Minuten nach dem Ende von Bidens Ansprache holte Trump zum Gegenschlag aus. In einer von seiner Sprecherin Liz Harrington verbreiteten Mitteilung warf er seinem Nachfolger vor, mit seiner Politik die Vereinigten Staaten zu stören. Mit seinen Beschuldigungen gegen ihn betreibe er einen «Versuch, das Land weiter zu spalten». «Dieses politische Theater soll allein von der Tatsache ablenken, dass Biden völlig und total versagt hat.»
Vor Trumps Einzug ins Weisse Haus gehörte es zum guten Ton, dass Amtsinhaber ihre Vorgänger nicht offen kritisierten. Der Republikaner scherte sich um diese und viele andere Gepflogenheiten nicht. Biden kündigte an, wieder einen präsidialeren Stil zu pflegen. So deutlich und ausführlich wie jetzt griff er Trump seit der Amtsübernahme noch nie an.
«Ein Netz an Lügen über die Wahl 2020 gesponnen»
Biden kritisierte, sein Vorgänger habe den Angriff vor einem Jahr im Weissen Haus am Fernseher verfolgt «und nichts getan». Trump habe «ein Netz an Lügen über die Wahl 2020» gesponnen und stelle seine Interessen über die der USA. «Sein angeschlagenes Ego ist ihm wichtiger als unsere Demokratie oder unsere Verfassung. Er kann sich nicht damit abfinden, dass er verloren hat.» Trump hat bislang offengelassen, ob er bei der Präsidentenwahl 2024 noch einmal kandidieren möchte.
Biden nannte Trumps Betrugsbehauptungen eine «Big Lie» – eine «grosse Lüge». Über seinen Vorgänger sagte er: «Er ist nicht nur ein früherer Präsident. Er ist ein besiegter früherer Präsident.» Trump sei in einer freien und fairen Wahl unterlegen. «Ich habe diesen Kampf, der heute vor einem Jahr in dieses Kapitol gebracht wurde, nicht gesucht. Aber ich werde auch nicht vor ihm zurückschrecken», sagte Biden. «Ich werde diese Nation verteidigen. Ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand der Demokratie einen Dolch an die Kehle legt.»
Washington stand am Donnerstag ganz im Zeichen des Jahrestags. Im Kapitol sitzt der Kongress, das US-Parlament aus Repräsentantenhaus und Senat.
Harris: Sturm aufs Kapitol im kollektiven Gedächtnis wie Pearl Harbour und 9/11
Vor Biden wandte sich Vizepräsidentin Kamala Harris vom Kapitol aus an die Nation – sie ist zugleich Präsidentin des Senats. Harris stellte die Erstürmung in eine Reihe mit grossen Schicksalstagen der USA in den vergangenen Jahrzehnten: dem japanischen Angriff auf die US-Pazifikflotte am 7. Dezember 1941, der zum Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg führte, und den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Solche Daten hätten «nicht nur einen Platz in unseren Kalendern, sondern auch in unserem kollektiven Gedächtnis».
Trump hat seine Betrugsbehauptungen zwar nie belegt – doch seine Strategie, Zweifel zu säen, scheint aufzugehen. Nach einer Umfrage der Nachrichtenseite Axios meinen nur 55 Prozent der Amerikaner, Biden habe die Wahl rechtmässig gewonnen – sogar etwas weniger als vor einem Jahr (58 Prozent).
Frühere US-Präsidenten zeigten sich besorgt. Trump-Vorgänger Barack Obama meinte: «Wahr ist, dass unsere Demokratie heute gefährdeter ist als sie es damals war.» Ex-Präsident Jimmy Carter schrieb in einem Beitrag für die «New York Times»: «Wenn wir nicht sofort handeln, besteht die reale Gefahr eines zivilen Konflikts und des Verlusts unserer wertvollen Demokratie.» (awp/mc/ps)