Endspiel: Wiktor Janukowitsch.
Kiew – Die ukrainische Führung befindet sich in Auflösung. Zwar verweigerte Präsident Viktor Janukowitsch seinen Rücktritt – das Parlament in Kiew erklärte ihn aber mit grosser Mehrheit für abgesetzt und kündigte für den 25. Mai Neuwahlen an. Dann will auch Oppositionsführerin Julia Timoschenko kandidieren. Die frühere Regierungschefin wurde am frühen Samstagabend nach mehr als zweieinhalb Jahren Haft freigelassen.
Die wohl beliebteste Politikerin des Landes machte sich umgehend auf den Weg nach Kiew, wo die Regierungsgegner die Kontrolle übernommen haben. Im Februar 2010 hatte sie die Präsidentenwahl gegen Janukowitsch verloren. «Die Diktatur ist gestürzt», verkündete Timoschenko voller Pathos.
Sicherheitskräfte laufen zur Opposition über
Sogenannte Selbstverteidigungskräfte schützten das Parlament, den Regierungssitz und die Präsidialkanzlei in Kiew vor Übergriffen. Die Sicherheitsorgane des Innenministeriums liefen zur Opposition über. Auch die Armee erklärte, sie werde sich nicht in den Machtkampf in der früheren Sowjetrepublik einmischen.
Janukowitsch hielt sich nach eigener Aussage im prorussischen Osten des Landes auf. Er betonte, die «gesetzwidrigen» Beschlüsse des Parlaments nicht anzuerkennen. «Die Ereignisse, die unser Land und die ganze Welt gesehen haben, sind ein Beispiel für einen Staatsumsturz», sagte Janukowitsch. «Ich bleibe im Land.» Seine Residenz Meschigorje bei Kiew war verlassen, Wachleute liessen Schaulustige zu einem «Tag der offenen Tür» herein.
Timoschenko-Vertrauter neuer Parlamentspräsident
Die Oberste Rada in Kiew wählte mit grosser Mehrheit den früheren Vizeregierungschef Alexander Turtschinow zum neuen Parlamentspräsidenten. Er ist ein Vertrauter Timoschenkos. Der bisherige Radachef Wladimir Rybak und sein Stellvertreter Igor Kaletnik hatten zuvor ihren Rücktritt eingereicht.
Turtschinow soll zusätzlich bis zur Ernennung einer Übergangsregierung die Kabinettsarbeit steuern. Zum neuen Innenminister wurde der Oppositionsabgeordnete Arsen Awakow gewählt, Generalstaatsanwalt Viktor Pschonka hingegen entlassen. Viele Fernsehender übertrugen die Sitzung des Parlaments live. Der Oppositionspolitiker Vitali Klitschko sprach von einem «politischen K.O.» für Janukowitsch.
Kabinettsmitglieder setzen sich ins Ausland ab
Experten wiesen darauf hin, dass der Staatschef formal weiter im Amt sei. Ein Amtsenthebungsverfahren sei ein schwieriges Verfahren und benötige mehrere Schritte. Mehrere Kabinettsmitglieder sollen bereits ins Ausland geflohen sein, darunter der mittlerweile vom Parlament abgesetzte Innenminister Witali Sachartschenko.
In Charkow, einer Machtbasis Janukowitschs, trafen sich Delegierte aus dem prorussischen Osten und Süden der Ex-Sowjetrepublik zu einem Kongress der sogenannten Ukrainischen Front. Dabei warfen sie der Opposition einen Staatsstreich mit Hilfe der EU und der USA vor. Im Land habe es eine bewaffnete Machtübernahme gegeben, sagte der Funktionär Oleg Zarjow. Er warnte davor, dass die Opposition auch die russischsprachigen Regionen im Osten erobern könne. In Charkow demonstrierten am Samstag auf einem zentralen Platz ebenfalls zahlreiche Regierungsgegner.
Tausende Menschen hatten in der Nacht auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) in Kiew ausgeharrt. Sie kritisieren, ein vorläufiges Abkommen Janukowitschs mit der parlamentarischen Opposition sei nicht ausreichend. Darin hatten die Konfliktparteien unter EU-Vermittlung vorgezogene Präsidentenwahlen, eine Übergangsregierung und eine neue Verfassung vereinbart.
Lage «höchst fragil»
Der deutsche Aussenminister Frank-Walter Steinmeier schätzte die Lage trotz des Abkommens als «höchst fragil» ein. «Die Vereinbarung ist keine Garantieerklärung für eine friedliche Entwicklung der Ukraine mit einer politischen Zukunft, die das Land beieinander hält», sagte er Steinmeier bei einer Veranstaltung im hessischen Hofgeismar.
In den vergangenen Tagen waren bei Zusammenstössen von Regierungsgegnern mit der Polizei in Kiew mindestens 77 Menschen getötet worden. Den Opfern wird an diesem Wochenende mit zwei landesweiten Tagen der Trauer gedacht. «Jetzt kontrolliert der Maidan ganz Kiew», sagte der Kommandant des Maidan, Andrej Parubij. Mitglieder der Selbstverteidigungskräfte fuhren in Lastwagen durch das Regierungsviertel, aus dem sich am Vorabend der überwiegende Teil der Sicherheitskräfte zurückgezogen hatte.
Proteste im Januar erstmals eskaliert
Das Parlament hatte am Vorabend erste Beschlüsse durchgepeitscht und auch für ein Gesetz gestimmt, das den Weg für Timoschenkos Haftentlassung frei macht. In vielen westlichen Regionen hatten Regierungsgegner schon zuvor die Kontrolle über Verwaltungsgebäude übernommen.
Die Demonstrationen gegen Janukowitsch waren Ende November ausgebrochen, nachdem der Staatschef auf Druck Russlands ein historisches Partnerschaftsabkommen mit der Europäischen Union auf Eis gelegt hatte. Mitte Januar eskalierten die Proteste erstmals, es gab mehrere Tote. (awp/mc/upd/ps)