Japans Regierungschef Abe tritt zurück
Tokio – Japans rechtskonservativer Regierungschef Shinzo Abe hat nach einer Rekordamtszeit von fast acht Jahren wegen gesundheitlicher Probleme überraschend seinen Rücktritt angekündigt. Er bleibe im Amt, bis ein Nachfolger feststehe, sagte der 65-Jährige am Freitag auf einer Pressekonferenz. Zu möglichen Kandidaten seiner regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) wollte er sich nicht äussern. Als Favoriten werden der als moderat geltende frühere Verteidigungsminister Shigeru Ishiba, der sich öfter kritisch über Abe geäussert hatte, und Ex-Aussenminister Fumio Kishida gehandelt. Die LDP will laut Medien nächste Woche über die Nachfolgewahl beraten.
Er wolle mit seinem Rücktritt verhindern, dass seine Gesundheitsprobleme zu einem Führungsvakuum führten, erklärte Abe. Kürzliche Testergebnisse hätten ein Wiederaufflammen einer chronischen Dickdarm-Erkrankung ergeben. Er hatte sich zuletzt wiederholt in ein Krankenhaus begeben. Wegen dieses Problems war er schon 2007 nach einer ersten kurzen Amtszeit abrupt zurückgetreten. Der 65-Jährige hatte erst am Montag den Rekord als längster amtierender Ministerpräsident seines Landes aufgestellt, den zuvor sein Grossonkel Eisaku Sato gehalten hatte. Abe amtiert seit 2012.
«Säule des Multilateralismus»
EU-Ratschef Charles Michel dankte Abe für die enge Zusammenarbeit und die Partnerschaft mit der EU. Abe habe Japan zu einer Säule des Multilateralismus gemacht. «Ich wünsche Ihnen gute Gesundheit und hoffe, Sie bald wieder zu sehen, mein Freund», schrieb Michel am Freitag auf Twitter. Ein im vergangenen Jahr in Kraft getretenes Freihandelsabkommen zwischen der EU und Japan hatten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Abe bei Merkels jüngstem Besuch in Tokio 2019 als wegweisend gelobt. Japan trete mit Deutschland für eine regelbasierte Weltordnung ein, sagte Merkel damals. Die lange Freundschaft zwischen beiden Ländern sei «Ansporn in einer Welt, in der ja manches in Unordnung ist, doch enger zusammen zu arbeiten», sagte die Kanzlerin.
Gemischte Bilanz
Der erste nach dem Zweiten Weltkrieg geborene Regierungschef blickt auf eine gemischte Bilanz seiner langen Amtszeit zurück. Besonders bitter für Abe ist, dass er sein politisches Lebensziel nicht erreicht hat: eine Revision der pazifistischen Nachkriegsverfassung. Er bedauere dies sehr, sagte er. Abe glaubt, dass die pazifistische Verfassung nicht der einer unabhängigen Nation entspricht, da sie Japan 1946 von der Besatzungsmacht USA aufgezwungen worden sei.
Erste Pfähle hatte Abe zwar eingerammt. So liess er die Verfassung kurzerhand «uminterpretieren», um die Rolle des Militärs an der Seite der heutigen Schutzmacht USA auszuweiten. Gegen grossen Widerstand im Volk liess er Sicherheitsgesetze in Kraft setzen, die Kampfeinsätze im Ausland ermöglichen. Das Verbot von Waffenexporten wurde gelockert und ein Gesetz zum Schutz von Staatsgeheimnissen in Kraft gesetzt, das Kritiker an die Zeit erinnert, die zum Zweiten Weltkrieg führte.
Wenig Unterstützung beim Volk
Gerechtfertigt hat Abe all dies mit den gestiegenen Spannungen in der Region. Doch seine nationalistischen Ziele stiessen nie auf grosse Unterstützung im Volk. Abes Grossvater Nobosuke Kishi war nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten als mutmasslicher Kriegsverbrecher verhaftet worden; ein Prozess wurde ihm jedoch nie gemacht. 1957 wurde Kishi dennoch Ministerpräsident. Sein Enkel Abe gilt unter Kritikern als rechter Populist und aussenpolitischer Hardliner. Andere billigen ihm jedoch zu, pragmatisch zu handeln.
Seine anfängliche Popularität hatte sich Abe mit seiner harten Haltung gegenüber Nordkorea in der Frage der Entführung von Japanern in den 70er und 80er Jahren erworben. Auch dieses Problem hat er in seiner rekordlangen Amtszeit nicht lösen können. Gleiches gilt für den jahrzehntelangen Streit mit Russland um die Kurilen-Inseln im Pazifik, die Japan als seine «nördlichen Territorien» bezeichnet. Sie waren nach dem Zweiten Weltkrieg an die Sowjetunion gefallen. Der Streit verhindert bis heute den Abschluss eines Friedensvertrages.
Das Verhältnis zu China, das ebenfalls wegen Inselstreits sowie Japans Umgang mit seiner Kriegsvergangenheit schwierig ist, hat sich zwar zuletzt verbessert. Die Beziehungen zu Südkorea sind dagegen infolge eines Handelsstreits stark belastet. Hintergrund ist ein Disput über die Entschädigung koreanischer Zwangsarbeiter in japanischen Unternehmen während der Kolonialherrschaft Japans.
«Abenomics» und die Folgen
Wirtschaftlich wollte Abe mit seiner «Abenomics» getauften Wirtschaftspolitik aus billigem Geld, schuldenfinanzierten Konjunkturspritzen und dem Versprechen von Strukturreformen Japan aus der jahrzehntelangen Deflation und Stagnation führen. Zwar hat die vor Deutschland drittgrösste Volkswirtschaft der Welt unter Abe zwischenzeitlich die längste Wachstumsphase seit Jahren erlebt, die Börse boomte. Zudem kurbelte er den Tourismus an, der viel Geld ins Land brachte. Auch waren die Unternehmen insgesamt sehr profitabel geworden und fingen an, auch angesichts der Unsicherheit durch den Protektionismus der USA wieder im eigenen Land zu investieren.
Gleichzeitig aber habe die «Abenomics» dazu geführt, dass die Gewinne in den vergangenen Jahren ungleich verteilt worden seien, beklagten seine Kritiker. Ein Drittel der Beschäftigten in Japan hat keine feste Anstellung. Zudem hat die jahrelange Niedrigzinspolitik die Finanzinstitute belastet. Auch ist Japan vom Ziel der Notenbank einer Inflation von zwei Prozent noch immer meilenweit entfernt.
Die lange Wachstumsphase kam dann im Zuge einer Mehrwertsteuererhöhung, dem Handelskrieg zwischen den USA und China und der Corona-Krise jäh zum Ende. Die vor Deutschland drittgrösste Volkswirtschaft der Welt stürzte in eine tiefe Rezession. Abe selbst sprach kürzlich von der schwersten Krise der Nachkriegszeit.
Auch Skandale um Vetternwirtschaft überschatteten Abes Amtszeit. Hinzu kam zuletzt Kritik an seinem Umgang mit der Corona-Krise, seine Umfragewerte sanken deutlich. Viele Bürger sind unzufrieden mit seiner Politik. Doch sehen viele in der Opposition keine echte Alternative. Auch dies war ein Grund, warum Abe so lange regieren konnte. Jetzt muss seine Regierungspartei einen Nachfolger finden. (awp/mc/pg)