Joachim Gauck neuer deutscher Bundespräsident
Joachim Gauck tritt die Nachfolge von Christian Wulff an.
Berlin – Die Erwartungen sind nach zwei gescheiterten Präsidentschaften gewaltig: Als erster Ostdeutscher ist der frühere DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck zum neuen Staatsoberhaupt gewählt worden. Die Bundesversammlung in Berlin kürte den 72-Jährigen am Sonntag mit grosser Mehrheit zum Nachfolger des im Februar zurückgetretenen Christian Wulff.
Gauck erhielt 991 von 1228 gültigen Stimmen, das entspricht einer Zustimmung von gut 80 Prozent. Jedoch verweigerten ihm mindestens 103 Delegierte aus dem eigenen Lager – CDU, CSU, SPD, FDP und Grüne – ihre Unterstützung. Für Gaucks Gegenkandidatin Beate Klarsfeld votierten 126 Delegierte. Damit erhielt die als Nazi-Jägerin bekanntgewordene 73-Jährige mindestens drei Stimmen von Vertretern anderer Parteien – die sie unterstützende Linkspartei stellte nur 123 Delegierte. Insgesamt 108 Delegierte enthielten sich.
Ja sagen zur Verantwortung
In einer kurzen Rede nach der Annahme seiner Wahl zum Bundespräsidenten versicherte Gauck: «Ich werde mit all meinen Kräften und meinem Herzen «Ja» sagen zu der Verantwortung, die Sie mir heute gegeben haben.» Gleichzeitig räumte er ein, «ganz sicher nicht alle Erwartungen erfüllen zu können», die in den kommenden fünf Jahren an ihn gerichtet würden. Er wolle sich nun auf neue Themen, Probleme und Personen einstellen.
«Was für ein schöner Sonntag»
Als Bundestagspräsident Norbert Lammert das Wahlergebnis verkündete, brandete Beifall in der Bundesversammlung auf. Gauck erhob sich unmittelbar von seinem Platz und nahm die Wahl an. «Was für ein schöner Sonntag!», sagte er. Damit ist Gauck bereits offiziell als Staatsoberhaupt im Amt. An diesem Montagvormittag nimmt er die Amtsgeschäfte auf. Die Vereidigung des elften Präsidenten vor Bundestag und Bundesrat ist für Freitag vorgesehen.
Unterstützung von Fünf-Parteien-Koalition
Der parteilose Theologe wurde von einer bislang einmaligen Fünf-Parteien-Koalition unterstützt, die in der Bundesversammlung insgesamt 1100 Mandate hatte. Wegen sechs Krankheitsfällen waren es faktisch aber nur 1094 Delegierte. Ausserdem hatten die zehn Wahlleute der Freien Wähler Gauck ihre Unterstützung zugesagt.
Gauck erinnerte an seine erste freie Wahl zur DDR-Volkskammer am 18. März vor 22 Jahren. «In jenem Moment war da in mir neben der Freude ein sicheres Wissen: Ich werde niemals eine Wahl versäumen.» Auch als Präsident könne er sich die Welt und das Land nicht denken ohne Freiheit und Verantwortung. Er nehme diesen Auftrag mit Dankbarkeit an. Im Sender n-tv sagte Gauck am Nachmittag, er wolle die Menschen motivieren zu mehr Verantwortung – unter anderem solche Menschen, die nicht zur Wahl gingen.
Merkel zufrieden
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) äusserte sich zufrieden über die breite Mehrheit für Gauck. Sie sagte in einem Interview von ARD und ZDF, es könne durchaus vorkommen, dass Gauck etwas kritisch sehe – genauso wie es sein könne, dass sie etwas kritisch sehe. Dies sei normal. «Es geht jetzt hier nicht um irgendwelche Erziehungsmethoden, sondern um Meinungsäusserungen, aus denen im übrigen eine Demokratie meistens gestärkt herauskommt.»
CDU-Chefin Merkel hatte sich zunächst gegen Gauck als Präsidentschaftskandidaten ausgesprochen. Nach einem «Prozess des Überlegens» habe sich die Union allerdings für Gauck entschieden, sagte sie. Merkel betonte, der neue Präsident habe die Belange der Bürger im Auge und achte zugleich die Politiker. Dass nun zwei Persönlichkeiten aus dem Osten an der Spitze des Staates stünden, sei ein Zeichen, dass die deutsche Einheit gelinge und gelungen sei.
Themenschwerpunkt Freiheit
Gauck betonte im Sender n-tv: «Liebe Leute, ihr wisst es doch genau: Ihr habt keinen Heilsbringer oder keinen Heiligen oder keinen Engel, ihr habt einen Mensch aus der Mitte der Bevölkerung als Bundespräsidenten.» Er habe mit der Freiheit seinen Themenschwerpunkt gesetzt, weil dieser – anders als in den USA oder in Polen – hierzulande zu wenig beachtet werde. Seine erste Präsidentenreise wolle er möglichst nach Polen machen.
Porträt von Joachim Gauck
httpv://youtu.be/sxKpjnkDzLI
Vertrauen in die höchsten Staatsämter wieder stärken
Bundestagspräsident Lammert schlug zum Auftakt der Bundesversammlung vor, der Präsidenten künftig am 18. März zu wählen oder zu vereidigen – dem Datum der Bürgerrevolution 1848 und der ersten freien DDR-Volkskammerwahl 1990. Bisher wird üblicherweise am 23. Mai gewählt, dem Verfassungstag. Lammert verband diesen Vorschlag mit Kritik im Zusammenhang mit den vorzeitigen Rücktritten der Bundespräsidenten Wulff (2012) und Köhler (2010). Nach dem Grundgesetz werde der Bundespräsident für fünf Jahre gewählt – dies solle auch so bleiben, mahnte er. Es gelte, «die politische Realität wieder näher an die Verfassungsnorm zu bringen».
Zugleich rief Lammert dazu auf, das Vertrauen in die höchsten Staatsämter wieder zu stärken. «Demokratie braucht Vertrauen. Sie basiert vor allem auch auf dem Vertrauen in ihre Repräsentanten.» Dies gelte besonders für den Bundespräsidenten. «Mit keinem Amt verbinden sich mehr Erwartungen auf Vertrauen und Autorität». Ständiges Misstrauen mache «die Wahrnehmung öffentlicher Ämter unmöglich», betonte Lammert.
Kritische Töne zur Wulff-Präsidentschaft
Zum Rücktritt Wulffs nach nur 20 Monaten im Amt sagte Lammert, die Geschichte dieser kurzen Präsidentschaft werde zu einem späteren Zeitpunkt geschrieben werden. Bei der Bewertung gehe es auch um das Verhältnis von Amt und Person, die Erwartungen an Amtsträger, aber auch die Rolle der öffentlichen und veröffentlichten Meinung. «Es gibt durchaus Anlass für selbstkritische Betrachtungen, nicht nur an eine Adresse», sagte Lammert. «Manches war weder notwendig noch angemessen, sondern würdelos. Von der zunehmenden Enthemmung im Internet im Schutze einer tapfer verteidigten Anonymität gar nicht zu reden.» Mit dieser Äusserung löste Lammert im Internet Empörung aus. (awp/mc/pg)