Kiew/Moskau – Russland will auch nach der geplanten Einverleibung besetzter ukrainischer Gebiete und trotz drohender Sanktionen des Westens weiter Krieg führen. Gekämpft werden solle noch mindestens bis zur Eroberung des gesamten Gebiets Donezk, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Mittwoch. Er äusserte sich damit zum Ende der als Völkerrechtsbruch kritisierten Abstimmungen über den Beitritt besetzter ukrainischer Gebiete zur Russland.
In den besetzten Teilen des Gebiets Donezk hatte es fünf Tage lang bis Dienstag ein Scheinreferendum gegeben – mit angeblich fast 100 Prozent Zustimmung. Die gegen internationales Recht verstossenden Abstimmungen liefen auch in dem nahezu komplett von Moskau kontrollierten Gebiet Luhansk sowie in den besetzten Teilen der Gebiete Cherson und Saporischschja. Auch dort stimmten die Menschen angeblich mit grosser Mehrheit für einen Beitritt zu Russland.
«Sie wissen ja, dass nicht das gesamte Territorium der Donezker Volksrepublik befreit ist», sagte Peskow. Deshalb sei die Befreiung der gesamten Volksrepublik «ein Minimum». Bisher kontrollieren Russlands Truppen und Separatistenverbände rund 58 Prozent des ostukrainischen Gebiets Donezk. Das russische Verteidigungsministerium hatte eingeräumt, dort nach Kriegsbeginn am 24. Februar viel langsamer vorangekommen zu sein als geplant.
Ukraine fordert mehr Waffen vom Westen für Rückeroberung
Die Ukraine forderte vom Westen mehr Waffen für die Rückeroberung der Gebiete. «Wie auch im Falle der ukrainischen Krim bleiben die Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson souveräne Territorien der Ukraine», erklärte das Aussenministerium in Kiew. Die Ukraine habe das volle Recht, ihre territoriale Integrität mit militärischen und diplomatischen Methoden wiederherzustellen. Das Militär benötige «Panzer, Kampfflugzeuge, gepanzerte Fahrzeuge, weitreichende Artillerie und Mittel zur Flug- und Raketenabwehr». Die EU, die Nato und die G7-Staaten sollten zudem unverzüglich neue harte Sanktionen gegen Russland verhängen.
EU erkennt Ergebnis russischer Scheinreferenden nicht an
Kanzler Scholz sicherte dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bei einem Telefonat weitere Unterstützung zu. Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell teilte auf Twitter zu den Scheinabstimmungen mit: «Das ist eine weitere Verletzung der Souveränität und der territorialen Integrität der Ukraine, die mit systematischen Menschenrechtsverletzungen einhergeht.» Borrell lobte den Mut der Ukrainer, die sich weiterhin der russischen Invasion widersetzten. Auch EU-Ratspräsident Charles Michel verurteilte die Scheinreferenden und deren Ausgang. Man erkenne diese nicht an.
Kremlchef Putin entscheidet über Aufnahme der Gebiete
Die Besatzungsbehörden in den Gebieten der Ost- und Südukraine baten Kremlchef Wladimir Putin um den Beitritt zur Russischen Föderation. «Die Bürger der Luhansker Volksrepublik haben eine leuchtende und blühende Zukunft gewählt», teilte der dortige Separatistenführer Leonid Passetschnik mit. Kremlsprecher Peskow bestätigte, dass Putin die Vertreter der Besatzung in Moskau empfangen werde. Einen Termin gab es zunächst nicht. Putin hatte schon vor Beginn der Scheinreferenden betont, dass die Gebiete nach der Einverleibung unter dem Schutz der Atommacht stünden. Er verspricht den Neubürgern ein besseres Leben, die Renten und Sozialleistungen in Russland etwa sind höher als in der Ukraine.
Die Scheinreferenden werden weltweit nicht anerkannt. Der Grund dafür ist, dass sie unter Verletzung ukrainischer und internationaler Gesetze sowie ohne demokratische Mindeststandards abgehalten wurden. 2014 hatte Moskau sich bereits die Schwarzmeer-Halbinsel Krim einverleibt. Zusammen mit der Krim stehen knapp 20 Prozent des ukrainischen Territoriums unter russischer Kontrolle.
Fahrplan für die Annexion der Gebiete
Die beiden russischen Parlamentskammern wollen Anfang nächster Woche über die Annexionen entscheiden. Bisher war in Medien spekuliert worden, Präsident Putin könnte schon an diesem Freitag in einer Rede vor beiden Parlamentskammern die Annexion der Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson formell bekanntgeben. Das dürfte nun erst nach den Sitzungen passieren.
Wie im Fall der Annexion der Schwarzmeer-Halbinsel Krim 2014 könnten die Menschen automatisch russische Staatsbürger werden. Auf der Krim hatten Bürger damals übergangsweise Zeit, sich aktiv dagegen auszusprechen und nach einer Erklärung die ukrainische Staatsbürgerschaft zu behalten. Während es nun auf der Krim auch eine Teilmobilmachung von Reservisten gibt, um die neuen besetzten Gebiete zu halten, müssen die Bürger in den neuen besetzten Gebiet wohl keine direkte Einberufung zum Kriegsdienst befürchten.
In seit Jahren von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebieten in Luhansk und Donezk galt bereits die Mobilmachung. Dort kämpfen seit acht Jahren Ukrainer gegen Ukrainer. In den frisch besetzten Gebieten der Regionen Saporischschja und Cherson dürfte es wohl eine Übergangsregelung geben. Russland hatte zuletzt auch Hunderttausende Pässe im Donbass ausgeteilt. Wer russischer Staatsbürger und Reservist ist, kann unter die Teilmobilmachung fallen.
Ukraine droht mit Strafen
Der ukrainische Geheimdienst SBU teilte mit, dass gegen 16 Organisatoren der Scheinreferenden in den Gebieten Donezk, Cherson und Saporischschja Strafverfahren wegen «Kollaboration» eingeleitet wurden. Unter ihnen sind der Donezker Separatistenchef Denis Puschilin und die von Russland eingesetzten Chefs der Besatzungsverwaltungen in Cherson und Melitopol, Wladimir Saldo und Jewgeni Balizki. Ihnen drohen bis zu zehn Jahren Gefängnis.
Beobachter hatten in den vergangenen Tagen auf zahlreiche Fälle hingewiesen, in denen die Bewohner der besetzten Gebiete zur Abgabe ihrer Stimme gezwungen wurden. Nach Auszählung aller Stimmen hätten in Donezk 99,2 Prozent der Wähler zugestimmt, erklärte die dortige Besatzungsverwaltung. In Luhansk sollen es den russischen Angaben zufolge mehr als 98 Prozent, in Saporischschja mehr als 93 Prozent und in Cherson mehr als 87 Prozent gewesen sein. (awp/mc/pg)