Trümmerfeld bei Adschdabija nach Gefechten vom Wochenende.
Tripolis – Unter dem Schutz der westlichen Militärkoalition schreitet der Vormarsch der Rebellen in Libyen voran. Nach Einnahme der strategisch wichtigen Ölhäfen im Osten des Landes rückten die Aufständischen in der Nacht zum Montag gegen Sirte, die Heimatstadt von Machthaber Muammar al-Gaddafi vor. Dort trafen sie allerdings auf Widerstand von Regierungstruppen.
Noch stünden die Rebellen etwa 120 Kilometer östlich der Stadt, hiess es aus Quellen in Tripolis. Am Dienstag wollen die Aussenminister von mehr als 35 Nationen in London über die Zukunft des Landes beraten. Die westliche Militärkoalition flog am Montagmorgen erneut Angriffe auf Stellungen Gaddafi-treuer Truppen in Sirte. Staatliche Medien berichteten von insgesamt neun Explosionen in der Mittelmeerstadt.
Kampf um Gaddafis Geburtsstadt Sirte
Auch gegen die Hauptstadt Tripolis seien in der Nacht Luftschläge geführt worden. Gaddafis Artillerie beschoss indes die Stadt Al-Sintan südwestlich von Tripolis mit Raketenwerfern vom Typ Grad, berichtete Al-Dschasira unter Berufung auf einen Oppositionssprecher. Rund 200 Gaddafi-treue Soldaten ergaben sich in der Ölförderstadt Dschalu, 400 Kilometer südlich von Bengasi im Landesinneren, den Aufständischen, nachdem sie von den entlang der Mittelmeerküste abziehenden Truppen abgeschnitten worden waren. Sirte, die Geburtsstadt Gaddafis, dürfte von den Rebellen ohne neuerliche Luftunterstützung durch die westliche Allianz schwer zu erobern sein. Die Stadt liegt 460 Kilometer östlich von Tripolis und 560 Kilometer westlich der Aufständischen-Metropole Bengasi.
Nato übernimmt Kommando
Die Botschafter der 28 Nato-Staaten hatten am Sonntag die Übernahme des Kommandos für den gesamten internationalen Militäreinsatz beschlossen. Dies gelte «mit sofortiger Wirkung», sagte Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen am Abend in Brüssel. «Unser Ziel ist es, Zivilisten und von Zivilisten bewohnte Gebiete zu schützen, die von einem Angriff durch das Gaddafi-Regime bedroht sind», heisst es in der Erklärung Rasmussens mit Blick auf die vom UN-Sicherheitsrat beschlossene Libyen-Resolution. «Die Nato wird alle Aspekte dieser Resolution umsetzen – nicht mehr und nicht weniger.» Die Nato-Mitglieder müssten nun entscheiden, ob und wie sie sich daran beteiligen wollten, sagte Rasmussen.
Frattini: «Keine deutsch-italienischen Achse»
Als erstes und einziges Bündnisland hat Deutschland eine militärische Beteiligung ausgeschlossen. Italiens Aussenminister Franco Frattini stellte vor der Libyen-Konferenz in London klar, dass er keine «deutsch-italienischen Achse» zur Beilegung des Libyen-Konflikts anstrebe. «Wir müssen eine Lösung finden, die von allen Verbündeten geteilt wird, nicht nur von den vier grössten europäischen Ländern», sagte Frattini am Montag dem italienischen Fernsehsender Rai Uno. Jede Spaltung in der politischen Libyen-Strategie müsse vermieden werden. Es gehe darum, eine gemeinsame Lösung zu finden für «das neue Libyen, das nach Gaddafi». Dass Gaddafi ins Exil geht, ist nach Frattinis Worten eine Option, die von der internationalen Gemeinschaft erörtert wird. «Ich bezweifele, dass er gehen will, die internationale Gemeinschaft muss aber darauf bestehen.»
Adschdabija wieder in Händen der Aufständischen
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bot unterdessen an, eine baldige Waffenruhe in Libyen zu vermitteln. In der britischen Zeitung «The Guardian» warnte Erdogan davor, dass ein langwieriger Konflikte das Land in einen «zweiten Irak» oder «ein weiteres Afghanistan» verwandeln könnte. Erdogan sagte, Ankara sei im Gespräch sowohl mit der Regierung Gaddafis als auch mit dem Nationalen Übergangsrat der Aufständischen in Bengasi. Die Rebellen hatten am Samstag die lange Zeit heftig umkämpfte Stadt Adschdabija, 160 Kilometer südlich von Bengasi, eingenommen. Am Sonntag legten sie eine Strecke von 250 Kilometern zurück und rückten in die wichtigen Ölhäfen im Osten des Landes ein. Dabei seien sie in Brega und Ras Lanuf auf keinen Widerstand der Gaddafi-Truppen gestossen, berichtete Al-Dschasira. Bald seien sie in der Lage, die Kontrolle über die Ölexporte des Landes zu übernehmen, sagte der britische Verteidigungsminister Liam Fox am Sonntag der BBC. Damit könnten sie die «politische Dynamik» des Konfliktes entscheidend ändern.¨
Katar erkennt Gegenregierung an
Der Golfstaat Katar hat am Montag als erstes arabisches Land den libyschen Nationalrat, die Gegenregierung der Regimegegner in Bengasi, anerkannt. Der Schritt folge der «Überzeugung, dass der Nationalrat und alle seine Vertreter in den verschiedenen Gebieten Libyens de facto zur Vertretung Libyens und seines Volkes geworden sind», hiess es in einer Stellungnahme des Aussenministeriums in Doha, aus der die staatliche katarische Nachrichtenagentur QNA zitierte. Katar hatte sich als erstes arabisches Land dem westlichen Militärbündnis angeschlossen, das mit Luftangriffen auf die Regimetruppen auch die Zivilbevölkerung in Libyen schützen will. Dazu wird die Koalition von einer Resolution des Weltsicherheitsrats ermächtigt. Katar stellt eigene Flugzeuge für diese Mission. Dem kleinen öl- und gasreichen Golfstaat folgten auch die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), die sich mit zwölf Kampfflugzeugen an den Militäraktionen in Libyen beteiligen.
Kampf um Öl
Der Krieg der Aufständischen gegen die Gaddafi-Truppen ist auch ein Kampf um das libysche Öl. Rebellen kontrollieren bereits die meisten Exporthäfen. Die nachgewiesenen Erdölreserven Libyens wurden Ende 2009 mit 46 Mrd Barrel (je 159 Liter) angegeben. Im vergangenen Jahr förderte das nordafrikanische Land 1,5 Mio Barrel täglich. Mit einem Anteil von zwei Prozent an der weltweiten Förderung ist der Wüstenstaat einer der wichtigsten Ölproduzenten. Das Regime Gadaffi kontrolliert nur noch einen Teil des Öls. Die Rebellen haben mit der Kontrolle über die meisten Exporthäfen den Schlüssel für Libyens Reichtum in der Hand. Die bedeutendsten Ölvorkommen liegen in der Wüste im Südosten des Landes. Pipelines von dort enden in Häfen der Region Cyrenaika und an der Mittelmeerbucht Grosse Sirte. Einheiten der Aufständischen kontrollieren inzwischen alle strategisch wichtigen Ölhäfen im Osten des Landes. Allein im grössten Hafen Al-Brega wurden vor den Unruhen jährlich 300 Tanker und andere Frachtschiffe abgefertigt. (awp/mc/ps)
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