London – Nach nur wenigen Wochen im Amt ist die britische Premierministerin Liz Truss gescheitert. Die 47-Jährige kündigte am Donnerstag nach massiver Kritik aus den eigenen Reihen ihren Rücktritt an. Damit muss die regierende Konservative Partei im Rekordtempo erneut eine Regierungschefin oder einen Regierungschef küren. Innerhalb einer Woche solle die Nachfolge feststehen, sagte die scheidende Premierministerin in der Londoner Downing Street.
Truss räumte ein, ihre Vision des radikalen Wirtschaftswachstums, für die ihre Partei sie gewählt habe, nicht mehr umsetzen zu können. «Ich habe mit dem König gesprochen, um ihm mitzuteilen, dass ich als Chefin der Konservativen Partei zurücktrete», sagte Truss. Bis zum Wechsel bleibt die 47-Jährige noch im Amt. Truss ist damit auf dem Weg, als britische Regierungschefin mit der kürzesten Amtszeit in die Geschichte einzugehen.
Truss war massiv unter Druck geraten, nachdem sie mit geplanten Steuererleichterungen ein Finanzchaos ausgelöst hatte und später eine Kehrtwende hinlegen musste. Erst am vergangenen Freitag hatte Truss ihren Finanzminister Kwasi Kwarteng entlassen und durch den früheren Aussenminister Jeremy Hunt ersetzt. Hunt machte am Montag fast alle Bestandteile ihrer erst Ende September verkündeten Steuerpolitik wieder rückgängig. Er kündigte unter anderem an, die eigentlich für zwei Jahre vorgesehene Energiepreisdeckelung auf sechs Monate zu beschränken.
Comeback von Boris Johnson?
Schon am 31. Oktober – also in nicht einmal zwei Wochen – soll ein neuer Regierungschef im Amt sein. Es dauerte keine zwei Stunden, bis sich dafür der skandalgeplagte Ex-Premier Boris Johnson ins Gespräch brachte. Die «Times» schrieb, der erst im Sommer aus dem Amt geschiedene Politiker nehme an, eine erneute Kandidatur sei im «nationalen Interesse». Johnson, der nach der «Partygate»-Affäre und vielen weiteren Skandalen Anfang Juli zum Rücktritt gezwungen worden war, hat noch immer eine loyale Unterstützerbasis. In Umfragen unter Parteimitgliedern schnitt er zuletzt wieder gut ab.
Neben Johnson sind Ex-Finanzminister Rishi Sunak, aber auch die für Parlamentsfragen zuständige Ministerin Penny Mordaunt und Verteidigungsminister Ben Wallace im Gespräch. Sunak war im Sommer bei der parteiinternen Mitgliederabstimmung gegen Truss unterlegen und gilt als umstritten in der Fraktion. Der erst kürzlich ins Amt gekommene Finanzminister Jeremy Hunt lehnte Berichten zufolge eine Kandidatur umgehend ab. Als mögliche Kandidatin des rechten Parteiflügels gilt Suella Braverman, die am Mittwoch als Innenministerin entlassen wurde.
«Wir sind uns sehr bewusst über die Notwendigkeit im Sinne des nationalen Interesses, dies sehr schnell und klar zu regeln», sagte der Chef des zuständigen Fraktionskomitees, Graham Brady. Im Sommer hatte sich die Findung eines Nachfolgers für Boris Johnson wochenlang hingezogen. Um ins Rennen zu gehen, brauchen Kandidaten den Rückhalt von mindestens 100 Abgeordneten. Danach sollen erst Abstimmungen in der Fraktion und dann in der Parteibasis stattfinden.
Labour fordert Neuwahlen
Oppositionschef Keir Starmer von der Labour-Partei forderte dagegen eine sofortige Neuwahl. «Wir stehen bereit, eine Regierung zu formen», sagte er dem Sender Sky News. Auch die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon forderte eine Parlamentswahl. «Eine Neuwahl ist nun ein demokratischer Imperativ», schrieb die Chefin der Schottischen Nationalpartei SNP auf Twitter.
Am Mittwoch hatte das Ausscheiden von Innenministerin Braverman den Zerfall der Regierung beschleunigt. Ausserdem kam es im Parlament zu tumulthaften Szenen. Teilweise sollen konservative Abgeordnete eingeschüchtert und bedrängt worden sein, damit sie für die Regierung abstimmen. Viele Beobachter bezeichneten die Szenen als nie dagewesen. Der Labour-Abgeordnete Chris Bryant sagte der BBC, konservative Kollegen hätten an seiner Schulter geweint.
EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola sieht im Truss-Rücktritt eine Lektion, aus der auch andere Europäer lernen können. Rhetorik könne eine Regierung zu Fall bringen, sagte die Maltesin am Rande eines EU-Gipfels. Der französische Präsident Emmanuel Macron betonte, vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine, der Spannungen beim Thema Energie und noch grösserer Krisen sei es wichtig, dass Grossbritannien schnell wieder politische Stabilität erlange. US-Präsident Joe Biden betonte die enge Verbindung zwischen den beiden Ländern. (awp/mc/pg)