London / Brüssel – Unter grossem Zeitdruck hat die britische Premierministerin Theresa May am Mittwoch einen Ausweg aus der Brexit-Sackgasse gesucht. Im Parlament bekräftigte sie allerdings nur allgemein ihre Grundsätze im Streit über die künftige irische Grenze, ohne konkrete Lösungen zu nennen. Brexit-Minister David Davis liess mit der Aussage aufhorchen, die Regierung habe die wirtschaftlichen Folgen des für 2019 geplanten EU-Austritts nicht umfassend geprüft.
Die Europäische Union und Grossbritannien verhandeln seit Juni über die Bedingungen der Trennung. Am Montag wollten sie eigentlich erste Kompromisse festzurren, um dann ab Mitte Dezember über die künftigen Handelsbeziehungen reden zu können. Doch konnte May einer vorab zwischen London und Brüssel ausgehandelten Vereinbarung letztlich doch nicht zustimmen, weil sich ihr Partner im Parlament, die nordirische Partei DUP, querstellte.
DUP-Chefin Arlene Foster hält die Lösungsvorschläge für inakzeptabel, weil sie aus ihrer Sicht Nordirland einen Sonderstatus zuweisen und es somit teilweise vom Rest des Königreichs abkoppeln würden. Zudem beklagte sich Foster bitter darüber, dass ihr das Kompromisspapier zu spät vorgelegt worden sei.
May telefonierte am Mittwoch mit Foster. Anschliessend betonte die Regierungschefin bei einer Fragestunde im Parlament, sie wolle eine «harte Grenze» zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland vermeiden und gleichzeitig die «verfassungsmässige Integrität» Grossbritanniens wahren. Wie dies geschehen soll, blieb offen.
Zeit läuft davon
Die EU-Kommission wartet nun nach eigenen Angaben auf eine Klärung in London. Ursprünglich wollte die Brüsseler Behörde bereits am Mittwoch offiziell «ausreichende Fortschritte» in den bisherigen Verhandlungen feststellen und dem EU-Gipfel nächste Woche empfehlen, die zweite Verhandlungsphase zu starten. Mangels Einigung mit May beschloss die Kommission aber noch nichts.
Beiden Seiten läuft die Zeit davon: Die EU-Staaten fordern ausreichend Beratungszeit vor dem Gipfel zur Vorbereitung ihrer Verhandlungsleitlinien für Phase zwei. Sie wollen den Start notfalls auf nächstes Jahr verschieben, wenn nicht rasch doch noch eine Einigung gelingt.
In London verlangte der für den Austritt zuständige Parlamentsausschuss von Brexit-Minister Davis Auskunft über Analysen der Regierung über die Auswirkungen des EU-Austritts. Dieser hatte schon letztes Jahr von mindestens 57 Einzelanalysen gesprochen, die die Abgeordneten einsehen wollen. Nun aber sagte Davis, die Regierung habe keine formale Folgenabschätzung unternommen. Der Wert einer solchen Analyse wäre angesichts der umfassenden Folgen des Brexits «fast Null», sagte er. Zu erwarten sei ein «Paradigmenwechsel» für die britische Wirtschaft in ähnlicher Grössenordnung wie die Finanzkrise von 2008. (awp/mc/ps)